Unser Mann in Paris

geschrieben von Gerhard Leo

5. September 2013

Karl-Heinz Gerstner, deutscher Antifaschist und Mitglied der
Résistance

Sept.-Okt. 2006

Als unser Kamerad Dr. Karl-Heinz Gerstner am 14. Dezember 2005 im Alter von 93 Jahren verstarb, wurde in Nachrufen seine jahrzehntelange, oft kritische publizistische Tätigkeit auf wirtschaftlichem Gebiet in der DDR gewürdigt. Unerwähnt blieb seine hervorragende Aktivität als deutscher Antifaschist in Frankreich während der Okkupation des Landes. Er war, wie mir Jacques Duclos, Politbüromitglied in der FKP, Anfang der 1970er Jahre in einem Gespräch in Paris versicherte, für die französische Résistance „unser Mann in der Nazi-Botschaft“.

Der promovierte Jurist, der hervorragend französisch sprach und nach dem Studium von 1936 bis 1939 in der Deutschen Handelskammer in Paris gearbeitet hatte, wurde schon im Juni 1940, nachdem er wegen der Folgen einer Kinderlähmung als wehruntauglich erklärt worden war, in die deutsche Botschaft im okkupierten Paris versetzt. Als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ in der Wirtschaftsabteilung war er in einer untergeordneten Position, aber in der Botschaft unter dem Naziführer Abetz liefen viele Fäden zusammen und für die Résistance gab es dort wichtige Informationen.

Gerstners Tätigkeit für die Résistance war nicht eine spontane Entscheidung in Paris, sie entsprach seinen Überzeugungen und Erfahrungen. In seiner Klasse im Berliner Reformrealgymnasium gab es zahlreiche Schüler aus jüdischen Familien, zu denen er freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Sein Klassenlehrer Heinrich Müller, ein Romanist, verstand es, die Jungen für die französische Aufklärung und die Ideen der Revolution von 1789 zu begeistern. „Wir waren liberale Republikaner mit mehr oder weniger Linksdrall“, schreibt er in seinen Erinnerungen (Karl-Heinz Gerstner: Sachlich, kritisch und optimistisch, Edition Ost, Berlin 1999.) Über die bündische Jugend, in der sich Ende der 1920er Jahre viele Mitglieder nach links orientierten, kam Gerstner zur „Deutschen Jugendschaft vom 1. November“. Der Führer dieses Bundes schloss sich 1932 der KPD an.

Schließlich war seine Verlobte Sybille, mit der er fast 65 Jahre verheiratet sein wird, die Tochter eines jüdischen Pelzhändlers, den die Nazis verfolgten und der in einem ihrer Zuchthäuser sterben wird.

Der entscheidende Anstoß für sein Engagement in der Résistance war die Freundschaft mit einem führenden Mitglied des französischen kommunistischen Jugendverbandes. Während seiner Tätigkeit in der Deutschen Handelskammer in Paris lernt er im Winter 1937 bei einem Ski-Urlaub in den französischen Alpen den Medizinstudenten Serge Tsouladzé kennen. Er ist der Sohn eines vor der Revolution geflüchteten zaristischen Generals aus Georgien, der sich, wie so erstaunlich viele andere weißrussische Emigranten der zweiten Generation, in Frankreich der kommunistischen Bewegung angeschlossen hatte. Gerstner und Tsouladzé stellen ihre übereinstimmenden Überzeugungen besonders über die Gefährdung des Friedens durch die Nazibarbarei fest.

Als Gerstner 1940 als Angestellter in der deutschen Botschaft zu arbeiten beginnt, sucht er sofort seinen Freund Tsouladzé auf. Unter dem Decknamen Sergent ist der jetzt der Leiter einer bedeutenden Résistancegruppe junger Kommunisten. Gerstner sagt sofort zu, als er gefragt wird, ob er bereit sei, die Résistance über wichtige Vorgänge in der Botschaft zu informieren. Tsouladzé brachte den deutschen Antifaschisten in Verbindung mit Pierre Hentgès, einem führenden kommunistischen Journalisten, dem Beauftragten des illegalen Politbüros der FKP zur Zusammenarbeit mit der TA (Deutsche Arbeit), wie wir unsere in die Résistance integrierte Organisation deutscher Antifaschisten nannten. Auf wöchentlichen Treffen mit Tsouladzé, an denen später auch je ein Repräsentant der Gaullisten und der Sozialisten teilnahmen, informierte Gerstner über Aktivitäten der Botschaft zur politischen Absicherung der verbrecherischen Besatzungsmacht. Seine Arbeit in der Wirtschaftsabteilung gab ihm die Möglichkeit, Passierscheine zur Reise in die unbesetzte Zone zu beschaffen und die Résistance machte davon reichlich Gebrauch. Schließlich erfuhr Gerstner mehrmals von bevorstehenden Razzien gegen jüdische Bürger, allerdings erst unmittelbar davor. So mussten Gerstner, Serge und dessen enge Mitarbeiter innerhalb von Stunden Dutzende Wohnungen der Gefährdeten aufsuchen, um zu warnen. Mit einigen dieser Geretteten stand Gerstner noch Jahrzehnte nach Kriegsende in freundschaftlicher Verbindung.

Als Gerstner im Juli 1945 im befreiten Berlin von den sowjetischen Behörden festgenommen wurde unter dem Verdacht, an der verbrecherischen Okkupationspolitik in Frankreich beteiligt gewesen zu sein, trafen innerhalb kurzer Zeit mehr als 20 Bescheinigungen von Franzosen ein, die zu seiner Entlassung aus der Haft führten. Alle französischen Garanten hatten die kühnen Aktionen des deutschen Antifaschisten gelobt, so auch René Dumont, der spätere Präsidentschaftskandidat der Grünen. „Ich bewahre auch heute Herrn Gerstner meine ganze Freundschaft“, schrieb Dumont auf einem Kopfbogen des französischen Landwirtschaftsministeriums.