Vom Deserteur zum General

geschrieben von Das Gespräch führte Hans Canjé

5. September 2013

„antifa“-Gespräch mit Heinz Keßler, letzter
Verteidigungsminister der DDR

Sept.-Okt. 2006

Heinz Keßler, geboren am 20. Januar 1920 in Laubau (Schlesien), ist gelernter Maschinenschlosser. 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, desertierte nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Nach Funktionen in der FDJ und den Gewerkschaften, begann 1950 seine militärische Karriere. 1985 übernahm er als Nachfolger des ehemaligen Mitglieds der Internationalen Brigaden, Heinz Hoffmann, das Amt des Verteidigungsministers der DDR. Im „Schießbefehl-Prozeß“ wurde er, nach 850 Tagen Untersuchungshaft im September 1993 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt.

antifa: Ab 5:45 Uhr wird zurückgeschossen, hörte die deutsche Bevölkerung vor 67 Jahren, am 1. September 1939, über alle deutschen Sender. Sie waren zu dieser Zeit 19 Jahre alt. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?

Keßler: Ich muss hier vorausschicken, dass mein Vater zu dieser Zeit bereits im Gefängnis und Konzentrationslager war. Ich hatte also aus dieser progressiven Familientradition schon eine gewisse Vorstellung von dem, was das faschistische Deutschland für unser eigenes Volk und für andere Völker mit sich bringt.

antifa: Haben Sie sich vorstellen können, dass hier das Signal zum Weltenbrand gegeben worden ist?

Keßler: Sicher nicht in diesem Ausmaß, wie wir es dann erlebt haben. Aber ich hatte nach dem heimtückischen Überfall auf Polen schon die Furcht: Das wird eine lange, grausame Geschichte für unser Volk und die Völker Europas.

antifa: Sie wohnen in Berlin-Karlshorst in unmittelbarer Nähe des ehemaligen „Museums der Kapitulation“, dem heutigen „Deutsch-Russischen Museum“. Also dort, wo die faschistische Generalität am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hat. Sie hatten sich schon früher zur Kapitulation entschlossen und sind 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion aus der Wehrmacht desertiert. Was hat Sie dazu bewogen?

Keßler: Also Kapitulation würde ich das nicht nennen wollen. Im Gegenteil. Ich habe versucht einen Weg zu finden, um mich gegen den faschistischen Krieg, gegen die Okkupierung vieler europäischer Völker und deren Ausplünderung zu wehren, um mitzuhelfen, gegen diesen Krieg und damit gegen den Faschismus zu kämpfen. Das waren die Beweggründe dafür, dass ich am 15. Juli 1941 den Entschluss fasste, diese Armee zu verlassen, also zu desertieren, auf die Seite der Roten Armee überzugehen.

antifa: Das war also keine spontane Handlung?

Keßler: Nein. Ich habe mir lange überlegt, auch beeinflusst durch meine Eltern und ältere Genossen, was ich tun kann, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden und nicht mitschuldig zu werden. Diese Gedanken kreisten seit dem Überfall in meinem Kopf. Bei einer günstigen Gelegenheit habe ich mich dann zum Übertritt entschlossen.

antifa: Sie waren in der Sowjetunion an der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland beteiligt, das sich die Beendigung des Kriegs als Ziel gesetzt hatte. Sie haben als Frontbeauftragter dafür unter Einsatz Ihres Lebens gewirkt. Nach Ihrer Rückkehr haben sie eine Zeit Jugend- und Gewerkschaftsarbeit geleistet – denn wurden Sie wieder Soldat, Offizier und dann auch noch Verteidigungsminister der DDR. Andere Ihrer Generation haben damals gesagt: Nie wieder fasse ich eine Waffe an. Warum haben Sie sich so entschieden?

Keßler: Das war vor allem die Politik des Kanzlers Adenauer, der sich mit der Existenz der DDR nicht abfinden wollte und da waren die vielen alten Generale aus der faschistischen Wehrmacht, die so viel Unheil über die Welt gebracht hatten, schon wieder im Dienst. Deswegen sah ich es als notwendig an, dass die Antifaschisten in der DDR im Bündnis mit der Sowjetunion ihren Beitrag leisten müssten, diese antifaschistisch-demokratische Ordnung und später den Aufbau des Sozialismus auch bewaffnet zu schützen.

antifa: Sie hatten also kein Problem damit, nach diesem Krieg wieder Soldaten zu werden?

Keßler: Ich würde nicht sagen, dass ich kein Problem damit hatte. Es war schon eine schwierige Entscheidung mitzuhelfen, eine bewaffnete Organisation aufzubauen. Diese Armee hatte aber ausschließlich die Aufgabe, die Ergebnisse des Aufbaus zu sichern und zu verteidigen und hatte keinerlei aggressive oder expansive Ziele.

antifa: Wegen Ihrer Funktion als Verteidigungsminister der DDR, als erster Mann einer Armee, die, Sie deuteten das eben an, nie einen Krieg geführt hat, sind Sie nach dem Anschluss der DDR an die alte BRD zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, haben fünf Jahre davon verbüßt. Als Deserteur aus einer Armee, auf deren Konto am Ende ca. 50 Millionen Tote kommen und deren Generale fast alle unbehelligt davon gekommen sind, wird Ihnen dagegen amtlich die Anerkennung versagt. Sind Sie darüber verbittert?

Keßler: Ich bin natürlich darüber verbittert. Andererseits sehe ich das Problem für diese Richter. Mit einem General der Bundeswehr der desertiert war, hatten sie es ja nie zu tun bekommen. Die war mit Generalen wie Heusinger oder Speidel aufgebaut worden, die den faschistischen Vernichtungskrieg geführt haben. Für die war der Deserteur der zu vernichtende Feind. Sie wurden, im Gegensatz zu den Antifaschisten, nie diskriminiert.

antifa: In einem Bericht über Ihre Verurteilung fand ich den recht sarkastischen Kommentar: „Wäre er“, also Sie, „statt aus der Wehrmacht zu desertieren, in ihr General geworden und danach zur Bundeswehr gegangen, hätte er sich jede Verurteilung erspart.

Keßler: Das stimmt wohl. Ich hätte mir aber auch erspart, in einer Armee dienen zu müssen, die heute schon wieder Kriege führt.