Der Fall Theodor Lessing
11. September 2013
Von der deutschen Dreyfus-Affaire (1925) zum politischen Mord in Marienbad (1933)
Der 1872 in Hannover geborene und Ende August 1933 in Marienbad ermordete Jude und Sozialist Theodor Lessing gehört zu den wenigen geistigen Persönlichkeiten des 20 Jahrhunderts von universalem Gepräge. Auf dem Höhepunkt der sein Leben bedrohenden Berufsverbots-Kampagne charakterisiert Lessing sich am 9. November 1925 in dem »Gerichtstag über mich selbst« folgendermaßen: »Ich war mit ganzer Seele Arzt, mit ungeteilter Seele Lehrer, mit voller Hingabe Psychologe, mit ganzer Kraft Philosoph. Aber eigentlich war ich immer, was ich in der Jugend war: ´Nur Narr, nur Dichter!«
Lessing hatte sich 1924/25 in dem skandalumwitterten Fall des mehrfachen Knabenmörders und Polizeispitzels Fritz Haarmann kritisch zu Wort gemeldet. In »Haarmann – die Geschichte eines Werwolfs« deutet er den Massenmörder als Symptom einer kranken, zum Untergang bestimmten Gesellschaft, die den Massenmord des 1. Weltkrieges mit Orden dekoriere und einen neuen Weltbrand mit »Giftgasbomben« vorbereite, der »Millionenstädte in tötende Nebel hüllen« werde. Zur gleichen Zeit erschien das Hindenburg–Portrait von Lessing, in dem er den Ehrenbürger der Stadt Hannover und »Helden von Tannenberg« als »guten, treuen Bernhardiner« und als politische Null charakterisiert. Jedoch, so Lessing, besteige »besser ein Zero als ein Nero« den Thron, wüsste man nicht, dass hinter jedem Zero ein künftiger Nero stünde.
Studenten und Hochschullehrer forderten den Rektor der TH Hannover auf, den bekennenden Juden, Pazifisten und unabhängigen Sozialisten aus dem Lehrkörper zu entfernen. Der zuständige preußische Kultusminister Adolf Grimme (SPD, engagierter Gegner der NSDAP und später Mitglied der »Roten Kapelle«) sah sich gezwungen, dem Freud aus den gemeinsamen Jahren in Hannover »sein Misstrauen auszusprechen« und in den befristeten Zwangsurlaub zu schicken. Zurückgekehrt an seine Wirkungsstelle skandierten 700 Studenten am 31. Mai 1926 während seiner Vorlesung: »Juden raus! Verhaut ihn. Schlagt ihn nieder!« Und »Juden raus! Lessing raus!«
Das hellsichtige Gelegenheitsportrait über Hindenburg und seine Folgen, veröffentlicht am Vorabend der Wahl zum Reichspräsidenten im »Prager Tagblatt«, brachte Lessing um seine akademische Stellung als nicht beamteter außerordentlicher Professor mit besoldetem Lehrauftrag für Philosophie und Naturwissenschaften an der TH Hannover. Einflussreiche Professoren wie Eduard Spranger, Max Scheler und Edmund Husserl äußerten sich mit einer Unzahl an führenden Repräsentanten des gebildeten Deutschland von Theodor Heuss bis zu Hans Rothfels kritisch bis ablehnend zur »Persönlichkeit und wissenschaftlichen Leistung« des ungeliebten Außenseiters.
Wortmeldungen eines störenden Außenseiters und Querdenkers
Der leidenschaftliche Kampf des satirischen Zeitkritikers gilt vor allem dem intellektualistischen Prinzip, das »schulmeisterlich rechthaberisch« dem Leben im Wege steht. »Untergang der Erde am Geist« nennt er sein Hauptwerk. In der von ihm gegründeten und von seiner Frau Ada Lessing geleiteten Volkshochschule Hannover beschreibt und vermittelt Lessing ab 1918 – der Not und dem Leben zugewandt – in mehr als 70 Kursen und Vortragsreihen Phänomene für die Nachgeborenen, die noch heute unsere Themen sind. Als Reformpädagoge setzt er seit der Jahrhundertwende auf die Lebens- und Bildungsreform und tritt für die Gleichberechtigung der Frau ein. Lessing wirbt seit 1914 als Lazarettarzt vergeblich für Frieden und Völkerverständigung, kämpft gegen Unterdrückung, Not, Verletzung der Menschenrechte, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Schon früh thematisiert Lessing die Nord-Süd-Problematik und beschreibt nach 1918 die Gefahren, die vom Antisemitismus, vom völkischen Denken und vom Nationalsozialismus ausgehen. Er gründet neben der Volkshochschule die Antilärmbewegung und engagiert sich für den Tier-, Natur und Umweltschutz. Gegen den »Untergang des Abendlandes« plädiert Lessing im Februar 1927 als deutscher Vertreter der Liga der Menschenrechte auf dem Brüsseler »Kongress gegen Imperialismus und Kolonialismus« zusammen mit Albert Einstein, Ernst Toller und Helene Stöcker für eine neue »Kulturmission der abendländischen Völker«, die pfleglicher umgeht mit der Natur und die Gefahren der »Kemkraftwirtschaft« erkennt, vor der er schon damals hellsichtig warnt.
Sudetendeutsche Nationalsozialisten ermordeten Theodor Lessing am 30.August 1933 im Auftrag der NS-Führung als erstes prominentes Opfer der Nazis im Ausland. Triumphierend meldete die in seiner Heimatstadt erscheinende »Niederdeutsche Zeitung« zwei Tage später: »Nun ist auch dieser unselige Spuk weggewischt«.
Doch nach wie vor lohnt es sich, den Ideen des Philosophen und Publizisten Theodor Lessing mit einer singulären Lebensgeschichte zu folgen. Er plädierte sein Leben lang für eine Erziehung zur sozialen Verantwortung, zur Demokratiefähigkeit und Friedensbereitschaft.