Genau hier geschah es
18. November 2013
Marseille erinnert an nationalsozialistischen Terror und antifaschistischen Widerstand
Wer derzeit aufmerksam durch die gegenwärtige europäische Kulturhauptstadt Marseille geht, sieht ab und an Schriftzüge in weißer Farbe, die auf den Gehweg gesprüht sind. Diese Sprühereien gehören zu der temporären Kunstaktion Ici-Même, die an die besondere Rolle Marseilles während des Nationalsozialismus erinnert. Ici-Même heißt übersetzt so viel wie Genau hier. Genau hier, an den Orten, an denen die Sprühereien auf dem Straßenpflaster zu finden sind, befinden sich historische Orte des Exils und des Transits, des nationalsozialistischen Terrors und des antifaschistischen Widerstandes.
Marseille war von 1940 bis 1942 eine wichtige Durchgangsstation für Flüchtende vor dem Naziterror. Am Bahnhof Saint Charles erinnert die Station 22 daran, dass die meisten dieser Menschen mit der Eisenbahn ankamen. Anna Seghers hat die Situation derjenigen, die in Marseille auf eine Ausreisemöglichkeit in ein sicheres Land warteten, in ihrem Roman »Transit« eindrücklich beschrieben. Sie war selbst etwa drei Monate in Marseille, bevor sie im März 1941 mit ihrer Familie ausreisen konnte. Mit der Station 30 beim Hotel Aumage in der Rue du Relais, wird der Ort ihres Aufenthaltes in Marseille markiert. An die Situation der Exilanten erinnert u.a. auch die Station 15 am Quai des Belges. Dort befindet sich das Café Le Bruleur des Loupes, das ein Treffpunkt von geflüchteten Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern war.
Ende 1942 marschierten die Nazis in den bis dahin unbesetzten Teil Frankreichs ein und besetzten somit ganz Frankreich. Auf Befehl von Himmler wurde bei der Operation »Sultan« im Januar 1943 ein Teil des Marseiller Hafenviertels umstellt, die Häuser durchsucht und anschließend dem Erdboden gleichgemacht. In dem Hafenviertel mit seinen kleinen Gassen vermuteten die Nazis einen Hort der Résistance. 15.000 Personen wurden in ein Camp bei Fréjus interniert; etwa 800 Personen wurden in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Ein Schriftzug an der Station 2 des Parcours Ici-Même am Début du Quai du Port erinnert an die Zerstörung dieses Teils des Hafenviertels. Mit der Station 1 wird die Aufmerksamkeit auf das Maison Diamantée gelentkt, welches von der Sprengung verschont blieb. Mit dem Naziterror in Marseille beschäftigen sich noch weitere Stationen: Der damalige Sitz des Service travail obligatoire (STO) der die Verschleppung von Franzosen zur Zwangsarbeit nach Deutschland organisierte, wird mit der Nummer 23 sichtbar gemacht. An den Stationen 31, 49 und 50 wird an die damals dort bestehenden Gefängnisse erinnert. Ausgerechnet in der rue Paradis befand sich das Hauptquartier der Gestapo (Station 42).
Aber auch der Widerstand gegen Besatzung und Faschismus wird thematisiert. Etwa in der Canebière, wo ein Anschlag auf ein deutsches Soldatenkino statt fand. Oder am Place Castellane, wo der Kampf um die Befreiung von Marseille Ende 1944 thematisiert wird.
Ici-Même wird bis zum 29. November 2013 von einer Ausstellung im Marseiller Stadtarchiv begleitet. Diese Ausstellung rahmt die verschiedenen Themen, die in dem Parcours Ici-Même behandelt werden und setzt sie miteinander in Verbindung.
Der Parcours Ici-Même ist eine wunderbare Möglichkeit, die Stadt zu erkunden und die verschiedenen Aspekte der Geschichte Marseilles während des Vichy Regimes und der nationalsozialistischen Besatzung zu erfahren. Ein Stadtplan, auf dem alle Stationen eingezeichnet sind, ist in der Touristeninformation erhältlich. Die meisten Stationen liegen in der Nähe des Vieux Port und sind gut zu erlaufen. Weiter entfernte Stationen bieten die Möglichkeit, Marseille etwas abseits der Touristenpfade zu erkunden. Zwei Wermutstropfen bleiben. Zum einen ist der temporäre Charakter von Ici-Même dem Projekt eigen, da die gesprühte weiße Farbe früher oder später verblassen wird. Zum anderen sind alle gesprühten Stationen des Parcours Ici-Même, die dazugehörige Ausstellung und die Internetseite allesamt auf französisch, was für Interessierte, die nicht des Französischen mächtig sind, das Verständnis schwierig macht.