»Alles war spiegelblank«

geschrieben von Conrad Taler

20. November 2013

 

Scheinbar Nebensächliches vom Auschwitzprozess

 

 

 

Wenn mich jemand fragen würde, was mir nach 50 Jahren als Erstes zum Auschwitzprozess einfällt, dann wüsste ich auf Anhieb keine Antwort. Ich erinnere mich an das Verfahren wie an einen Alptraum, ohne sagen zu können, was ich als besonders bedrückend empfand. Als ich jetzt in meinen Aufzeichnungen geblättert habe, stolperte ich immer wieder über scheinbar Nebensächliches. Lebte etwa jener Angeklagte, der den Gerichtsvorsitzenden versehentlich mit »Herr Obersturmführer« anredete, nach so langer Zeit immer noch in seiner SS-Vergangenheit? Unter welchem Trauma litt möglicher Weise der ehemalige Häftling, der zu seinem ehemaligen Peiniger auf der Anklagebank »Herr Oberscharführer« sagte? Warum brach ein Mann auf der Zuhörertribüne bewusstlos zusammen, als einer der SS-Schergen die Tötung kranker Häftlinge durch Phenolinjektionen in den Herzmuskel beschrieb? Hatte er zu schwache Nerven? Schon möglich.

 

Die Grausamkeit, mit der in Auschwitz gemordet wurde, übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen. Das gilt auch für die Mentalität der Mörder und ihrer Vorgesetzten. Als einmal mehrere Kilo Zahngold, das ermordeten Opfern nach Öffnung der Gaskammern ausgebrochen worden war, nicht bei der zentralen Sammelstelle landeten, sollte ein SS-Richter die »Unregelmäßigkeiten« an den Ort und Stelle klären. Der Mann sagte später vor Gericht, das entwendete Gold habe den Gegenwert von wahrscheinlich 100 000 Leichen dargestellt. Die Gaskammern und das Krematorium atmeten nach seiner Schilderung »eine sachliche, neutrale, wertfreie Atmosphäre, alles war spiegelblank.« Schockiert sei er beim Betreten der Wachstube des Vergasungskommandos gewesen. Dort hätten SS-Leute mit Alkoholfahnen vor dem Mund und glasigen Augen auf mehreren Sofas vor sich hin gedöst, während Mädchen an einem Herd inmitten der Wachstube für sie Kartoffelpuffer backten.

 

Im Verlauf des langen Verfahrens hat keiner der Angeklagten ein Wort des Bedauerns über die Lippen gebracht. Leid getan haben sie sich nur selbst. »Ich weiß überhaupt nicht, was man von mir will«, stieß einer von ihnen wütend hervor. Ein anderer rechtfertigte sich mit den Worten: »Es hieß eben, die Juden sind an allem schuld.« Wieder ein anderer kehrte – dem Zeitgeist folgend – den Antikommunisten heraus. Er prahlte damit, den Häftling und späteren polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz geohrfeigt zu haben. »Die Kommunisten hasse ich besonders«, sagte er. Ein ehemaliger Häftling lenkte als Zeuge den Blick über das Geschehen in Auschwitz hinaus. »Was uns zu denken geben sollte, das ist die Tatsache, dass diese Mordmaschine nie in Gang gekommen wäre, wenn sich nicht Zehntausende zu ihrer Bedienung bereit gefunden hätten.«

 

Als der Auschwitzprozess 18 Jahre nach Kriegs-ende begann, hatten selbst höchste Repräsentanten der Bundesrepublik erfolgreich verdrängt, dass einige Nutznießer der Todesfabrik wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit von den Alliierten zur Rechenschaft gezogen worden sind. Einer von ihnen, ein Ruhrindustrieller, wurde wegen angeblicher Verdienste um den Wiederaufbau mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt, ausgerechnet kurz nach Beginn des Auschwitzprozesses und ausgerechnet während der Woche der Brüderlichkeit.

Ich habe den Skandal seinerzeit in der Frankfurter Wochenzeitung »Die Tat« angeprangert, aber was in einer antifaschistischen Zeitung stand, galt als kommunistische Hetze und wurde ignoriert. Erst als eine in der Schweiz erscheinende jüdische Zeitung, der ich einen Artikel über den unglaublichen Vorgang geschickt hatte, bei der Ordenskanzlei des Bundespräsidialamtes in Bonn anrief, zuckten die Beteiligten wie ertappte Sünder zusammen, und der Geehrte musste das Verdienstkreuz zurückgeben. Der Initiator des Auschwitzprozesses, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, wurde zeitlebens einer staatlichen Auszeichnung nicht für würdig befunden. Sein Wunsch, nicht nur die Mörder zu bestrafen, sondern auch die Wurzeln faschistischen Handelns bloßzulegen, ging mit dem Auschwitzprozess nur teilweise in Erfüllung.

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