»Liza ruft!« hieß die Parole

geschrieben von Christian Carlsen

21. November 2013

Dokumentarfilm über eine litauisch-jüdische Partisanin

 

Fania Joheles-Brancovskaja wurde am 22. Mai 1922 in Kaunas geboren, das Hauptstadt Litauens war, seitdem Polen Vilnius (polnisch: Wilno) annektiert hatte. Weil der Vater Benjamin Joheles als polnischer Staatsbürger diskriminiert wurde, zog er mit seiner Frau Rochel und den Töchtern Fania und Riwa 1927 nach Vilnius.

Fania Joheles-Brancovskaja im Gespräch mit dem Autor

Fania Joheles-Brancovskaja im Gespräch mit dem Autor

Die Stadt, die auf Jiddisch Wilne heißt, war nach Warschau das Zentrum des osteuropäischen Judentums und galt als »Jerusalem Litauens«. Die über 70 000 »Litwakes«, wie sich die litauischen Juden wegen ihres jiddischen Dialekts nennen, stellten ein Drittel der Einwohnerschaft. Ihre Geschlossenheit und ihr Dasein im Schatten des litauisch-polnischen Konflikts schützten die Gemeinde vor dem Antisemitismus, der in Polen grassierte. Fania erinnert sich an eine glückliche Kindheit in einem Elternhaus, das nicht religiös war, aber geprägt von »Jiddischkeit«.

Die ökonomische Situation der Familie besserte sich, als der Vater, ein Techniker, ein Elektrogeschäft in die Pylimo-Strasse eröffnet, über dem die Familie fortan auch wohnte. Fania besuchte eine jiddische Schule, Polnisch wurde ihre erste Fremdsprache. Wie viele Jugendliche engagierte sie sich politisch. Es gab Zionisten, Bundisten und Kommunisten und eine Selbstschutzgruppe, die antisemitische Schlägertrupps in Schach hielt.

Im Anschluss an den Hitler-Stalin-Pakt fiel Vilnius 1939 wieder an Litauen. Fania ging nach Weißrussland, um Lehrerin zu werden. Sie lernte Russisch und wurde Komsomol-Mitglied. Im Frühling 1941 kehrte sie nach Litauen zurück, das inzwischen von der Sowjetunion annektiert worden war.

Am 22. Juni 1941 fiel die Wehrmacht in Litauen ein, und die »Einsatzgruppen« begannen mit der Vernichtung des litauischen Judentums. Litauische Nationalisten erwiesen sich oft als willige Helfer. Fania und ihr Vater versuchten, in die Sowjetunion zu fliehen, doch wurden sie vom deutschen Vormarsch überrollt und kehrten nach Vilnius zurück, wo das Einsatzkommando 3 zu wüten begann. Zu den ersten Opfern gehören Fanias Großeltern, die im nahen Paneriai (deutsch: Ponar) erschossen werden.

Am frühen Morgen des 1. September 1941 wurde Fania mit ihrer Familie in das Ghetto getrieben, das die deutschen Besatzer in einem jüdischen Viertel der Altstadt eingerichtet hatten. Dort mussten sie sich zwei Zimmer mit einem Dutzend Menschen teilen. Weil der Vater einen »Arbeitsschein« besaß, blieb die Familie vor den deutschen Mordaktionen verschont, in deren Folge Ende 1941 keine 15 000 Wilnaer Juden mehr am Leben waren.

Fania selbst musste für die Deutschen putzen, stricken, Strohschuhe flechten. Freundschaften und ein beeindruckendes kulturelles Leben machten die schrecklichen Bedingungen erträglicher. 1942 schloss sich die 20-Jährige der »Fareinikten Partisaner Organisatzije« (FPO) an, einem breiten Bündnis politischer Jugendgruppen. Während Arbeitskräftemangel die Deutschen dazu anhielt, bis Juli 1943 keine größeren Vernichtungsaktionen durchzuführen, bereitete die FPO einen Aufstand vor. Die Mobilisierungsparole war »Liza ruft!«. Fania agitierte, schmuggelte Lebensmittel und wirkte als Kurierin.

Im Juli 1943 ließ die FPO-Führung den Aufstandsplan fallen und wies alle Mitglieder an, sich der sowjetischen Partisanenbewegung anzuschließen, die in den Wäldern östlich und südlich der Stadt operierte. Zuvor nahm Fania Abschied von ihrer Familie, ohne zu ahnen, dass sie diese nie wieder sehen sollte. Die FPO-Angehörigen bildeten teils eine eigene Formation, zum Teil gingen sie in sowjetischen Einheiten auf. Fania erinnert, der gemeinsame Kampf gegen ihre Peiniger habe sie erstmals wieder spüren lassen, ein Mensch zu sein. Gleichwohl blieb der Alltag Überlebenskampf. Die Ressourcen waren knapp. Die Deutschen unternahmen oft Strafexpeditionen, und Teile der Landbevölkerung standen den Partisanen feindlich gegenüber.

Im Juli 1944 beteiligte sich Fania an der Befreiung ihrer Heimatstadt. Nur einige wenige Juden hatten in Verstecken überlebt, einige hundert sollten später zurückkehren. Von ihnen erfuhr Fania vom Schicksal ihrer Liebsten.

Dennoch blieb Fania Brancovskaja-Joheles in ihrer Heimat und beteiligte sich mit ihrem Ehemann Mikhail, den sie im Widerstand kennengelernt hatte, am Wiederaufbau Litauens. Nach dem Tod Mikhails und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde ihr die Erinnerung an die Vernichtung der Wilnaer Juden und die Würdigung des Widerstands zur Lebensaufgabe.

Unermüdlich führt die heute 91-Jährige Interessierte zu den historischen Stätten, betreut das kleine Jiddische Institut und hilft bedürftigen Gemeindemitgliedern. Brachte ihr das im westlichen Ausland Anerkennung, geriet sie in ihrer Heimat in das Visier revisionistischer Antisemiten. 2008 begann die Staatsanwaltschaft gar, wegen »Kriegsverbrechen«  gegen sie zu ermitteln.

Gefragt, woher sie die Kraft für ihren Kampf nehme, sagte sie einmal: »Das tu‘ ich für die, was liegen tot in Ponar. Die können sich nicht stellen, die können nicht erzählen, was ihnen geschehen ist. In Jiddisch sagt man: ›So lang die Fieß tragen.‹ Das ist meine Pflicht.«