Französische Leerstellen

geschrieben von Thomas Willms

13. Januar 2014

Alte und neue Kunstwerke versuchen sie zu füllen

 

Frankreich war die eigenartigste Siegernation des II. Weltkrieges und hatte 1945 eine Menge zu verdrängen: die totale Niederlage gegen Deutschland und die breite ideologische, organisatorische, wirtschaftliche und sogar militärische Kollaboration mit dem Sieger, gipfelnd in einer halbfaschistischen eigenen Regierung. So folgte auf eine kurze Phase der Verfolgung von Kollaborateuren die weitgehende Festlegung auf ein »nationales Narrativ«, die Fixierung auf das andere, das »freie« Frankreich, für das verdächtig Viele sich schon immer eingesetzt haben wollten. Erst ab den 1960ern begann eine differenziertere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Das Schicksal einer Gesellschaftsgruppe aber blieb bis in die Gegenwart schwach beleuchtet. Es sind die 1,6 Millionen französischer Kriegsgefangenen, die nach der Niederlage im Juni 1940 nach Deutschland verschleppt wurden und dort auch überwiegend bis 1945 blieben. -Diese Männer symbolisierten das Desaster das 1945 durch die Teilhabe an Sieg und Besetzung Deutschlands nur mühsam überlagert werden konnte. Sie waren irgendwie peinlich vor allem im Vergleich mit den siegreichen Soldaten von 14/18. Andererseits hatten sie es »nicht so schlimm« gehabt wie die Deportierten und KZ-Häftlinge, die ebenfalls nach dem 8. Mai zurückströmten.

Georges Hyvernaud: Haut und Knochen, 2010 (deutsch), 112 Seiten, 12,90 EUR

Georges Hyvernaud: Haut und Knochen, 2010 (deutsch), 112 Seiten, 12,90 EUR

Der französische Historiker Jacques Benoist-Méchin schilderte 1956 in »Der Himmel stürzt ein« den rapiden Verfall der politischen und militärischen Elite im Mai und Juni 1940, die immer verzweifelteren Pläne, das zunehmende Misstrauen untereinander aus dem heraus sich nur zwei klare Positionen entwickelten. Auf der einen Seite General de Gaulle mit dem Willen, den Krieg von wo auch und unter welch schlechten Bedingungen auch immer fortsetzen zu wollen und auf der anderen Marschall Pétain, der dafür stand, sich mit dem Sieger im nationalen Interesse einigen zu wollen. Benoist-Méchin steht für letzteres. Bereits vor dem Krieg imponierte ihm das faschistische Deutschland, insbesondere sein Militär. In völliger Fehleinschätzung der tatsächlichen deutschen Pläne zur Auflösung Frankreichs, engagierte er sich für die deutsch-französische Zusammenarbeit – »la collaboration« – und wurde zum Leiter der französischen diplomatischen Delegation für die »Kriegsgefangenenfrage«. Darin musste er scheitern, denn die deutsche Seite dachte gar nicht daran, die Beute Arbeitskraft wieder herauszurücken.

Die Unklarheit der Führung machte sich den französischen Soldaten in unklaren Befehlen, dem Nebeneinander von Durchhalteparolen und defätistischen Ordern deutlich. Die schlechte Vorbereitung der eigenen Seite – auch noch acht Monate nach der Kriegserklärung – die Wehrlosigkeit gegenüber der Luftwaffe und den Panzerdivisionen und die pausenlosen Gewaltmärsche zerrütteten die Soldaten in selten dagewesener Geschwindigkeit.

Auf diese Art und Weise erfolgte bereits die Gefangennahme dieser ungeheuren Anzahl von Männern unter ungünstigsten psychologischen Umständen. Man trieb sie in riesigen Herden wie Vieh durch Deutschland in die Oflags (Offizierslager) und Stalags (Stammlager für Mannschaften). Die ohnehin große Kluft zwischen Offizieren und Soldaten wurde von den Deutschen so noch weiter zementiert.Es entstand ein paralleles Lagersystem zu den KZs, mit dem man sich nur wenig beschäftigt.

Ins Oflag IID im damaligen Pommern wurde der Leutnant Georges Hyvernaud verbracht. Auf diesen Erlebnissen basiert sein Kurzroman »Haut und Knochen«, der bereits 1949 veröffentlicht wurde. Es wundert nicht, dass er rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand und erst 1997 (auf Deutsch erst 2010) wieder aufgelegt wurde. Er schildert das Lager-Offiziersmilieu aus vormaligen Unterinspektoren, Gymnasiallehrern und Versicherungsdirektoren als halt- und ziellos. Das eigentliche Elend sind die hospitalistischen Mitgefangenen. Man sei »verurteilt zu den anderen« und »Gefangener von Gefangenen – den anderen.« Wer hier an Jean-Paul Sartre denkt, liegt nicht falsch, denn in »Les Temps Modernes«, der Zeitschrift des existentialistischen Philosophen, erschien bereits 1948 ein Kapitel des Buches.

Der Ich-Erzähler reflektiert in dem auch heute noch radikal modern wirkendem Roman seine Rückkehr nach Frankreich. In der Familie, auf den Ämtern, auf der Straße erlebt er sich als Fremder, der äußerlich dort weitermacht, wo er vor dem Krieg aufgehört hatte. Was er erlebt hat, interessiert niemanden wirklich. Beamte, Ärzte, Tanten und Onkel reden über ihn hinweg, schreiben ihm eine Geschichte und eine Rolle zu. Er soll zu »unseren Gefangenen« gehören und kommt in eine Reihe mit »unseren Kathedralen« und »unseren Soldaten«, ob er will oder nicht.

Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangner im Stalag IIB, 2013, 188 Seiten Großformat, 35,00 EUR

Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangner im Stalag IIB, 2013, 188 Seiten Großformat, 35,00 EUR

Erwartet werden Anekdoten, nicht aber dass er fünf Jahre nichts anderes als ein »Sack aus Gedärm« gewesen ist, der um die Latrine herumlungerte. Gleich 20 Seiten des Romans beschäftigen sich mit den Klosetts, als einem Hauptproblem der Gefangenen.

»Haut und Knochen« ist aber kein Zeitzeugenbericht, sondern ein Roman, der die Gesellschaftssicht Hyvernauds widerspiegelt, worauf seine Übersetzerin Julia Schoch hinwies (»Literatur als Rache«, Sinn und Form 5/13). Es ist eine ätzende Kritik nicht nur an der Bildung eines einseitigen Geschichtsbildes, am romantisierenden Konservatismus, sondern generell an »falschen Posen« und »selbstverpaßten Etiketten« wie Schoch schreibt.

Der Arbeitszwang für gewöhnliche Soldaten und die Größe der Lager unterschied Oflags von Stalags. 40 km vom Oflag IID befand sich das zehntausende Gefangene umfassende Stalag IIB, Schauplatz des Graphic Novels »Ich, René Tardi, Kriegsgefangner im Stalag IIB« von Jacques Tardi. Mit Tardi hat sich ein sehr bekannter Künstler des Themas angenommen. Man kennt ihn als Tabubrecher, Anti-Nationalen und Defätisten aus seinen Werken über den I. Weltkrieg. Es sind Horrorwerke, ausgerichtet auf die Zerstörung von »gloire« und »honneur«.

Ton und Strich dieser Werke werden aufgenommen, aber bezeichnend modifiziert. Hier geht es um den Vater und seine Sicht auf die Erlebnisse, die er in den 1980ern niedergeschrieben hatte. Tardi zeichnet sich selbst als Jungen mit kurzen Hosen in die Geschehnisse ein, fungiert als allwissender Erzähler und imaginiert Dialoge mit dem Vater. Aber das Ergebnis der guten Idee befriedigt nicht. Er kann sich nicht lösen von der Selbstdarstellung des Vaters, der kein Verlierer sein wollte. Er war immerhin Unteroffizier gewesen, der sich 1935 bewusst zur Armee gemeldet hatte, um etwas gegen Deutschlands Aufstieg zu tun. Die eigenen Erfolge als Panzerkommandant sind ihm wichtig, er will nicht teilhaben an der Depression, sondern auch im Lager fünf Jahre lang ein wütend Aufsässiger gewesen sein. Inkonsistenzen und Unwahrscheinlichkeiten in der Erzählung werden übergangen.

Trotz dieser strukturellen Schwäche liefert Tardis Buch ein extrem hartes, rohes und vulgäres Panorama des Lebens im Stalag, das an Hyvernaud gemahnt.

Auch »Rogers Heimkehr« von Florent Silloray ist ein Graphic Novel eines Nachgeborenen. Doch es ist ein Enkel, der Abstand ist größer, die gewählte Methode eine gänzlich andere, sehr viel zurückhaltendere.

Silloray zeichnet eine Parallelhandlung von Gestern und Heute. Der Großvater Roger hatte dem Enkel Florent nur sehr wenig über die Kriegsgefangenschaft erzählt. Mit Elan stürzt sich Florent deshalb nach Roberts Tod auf dessen Tagebuch, in dem dieser von 1940 bis 1941 über seine Zeit als Soldat und in der Kriegsgefangenschaft akribisch Notizen angefertigt hatte.

Florent Silloray macht sich mit Hilfe dieser zeitgenössischen Aufzeichnungen auf den Weg nach Belgien und Sachsen. Es ist kein sympathisches Bild, das er von der heutigen sächsischen Provinz zeichnet. Die Leute reden nicht gerne, die Spurensuche ist mühsam, vieles bleibt ungeklärt, Informationen über die Zeit von 1941 bis 1945 und die Heimkehr fehlen gänzlich.

Florent Silloray: Auf den Spuren Rogers, 2013, 112 Seiten Großformat, 24,95 EUR

Florent Silloray: Auf den Spuren Rogers, 2013, 112 Seiten Großformat, 24,95 EUR

Wo Tardi imaginiert und kräftig ausmalt, hält sich Silloray an Fakten. Geradezu archäologisch bearbeitet er Details. Er sucht und zeichnet Orte, Straßen, Häuser, Brücken, Gleise mit derselben Akribie wie sein Großvater sie mit Worten beschrieben hatte. Roger Silloray stand am unteren Ende der französischen Soldatenhierarchie, denn er gehörte zur Masse der Wehrpflichtigen. Der Gemüsebauer war nicht gerne Soldat geworden. Er hasste die Langeweile des Soldatseins, die im Mai 1940 urplötzlich in wildes Marschieren, Flucht und Gefangennahme umschlug. Hatte er vielleicht sogar »Glück« gehabt, dass die Deutschen ihn anschließend in einem sächsischen Tagebau einsetzten?

Florent Sillorays Buch lässt all das offen und wirkt dadurch fragmentarisch und auf den ersten Blick hölzern. Aber der Verzicht auf die krassen Bilder ist mutig und regt vielleicht besonders zum Denken an.