Täter in Farbe

geschrieben von Markus Tervooren

10. März 2014

»Das radikal Böse« robbt sich an die Seelennöte der Holocausttäter heran

 

Der Holocaust war anfänglich Handarbeit, das zeigt der Film von Stefan Ruzowitzky deutlich. Zwei Millionen Menschen, überwiegend Jüdinnen und Juden, brachten die »Einsatzgruppen« der Sicherheitspolizei und des SD unter Reichsführer Himmler hinter der Front in Polen, der Ukraine, Belorussland und weiteren Gebieten der Sowjetunion zwischen1939 und 1943 um. Per Genickschuss, Tag für Tag, Dorf für Dorf. Das geschah in aller Öffentlichkeit, vor Zuschauern. Die Täter erschossen Männer, Frauen, Kinder an der Hand ihrer Mutter. Sie gingen gründlich vor. Auf die Frage, wie viele Juden von den Nazis ermordet wurden, antwortet im Film der heutige Bürgermeister des ukrainischen Städtchens Bibrka: »Genau so viele, wie laut Aufzeichnungen hier gelebt hatten.« Ein alter Mann berichtet dazu, wie er als Kind den Mördern helfen musste, die Gruben für die Erschießungen auszuheben. Wir sehen die Ruine der ehemaligen Synagoge und eine kleine Gedenkstätte, die Kerzen stammen aus Israel. So sieht es heute im ehemaligen Yidishland, in der Gegend um Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine aus.

Das radikal Böse / Deutschland/Österreich, 01. 2014, 96 Min -Ab 12

Das radikal Böse / Deutschland/Österreich, 01. 2014, 96 Min -Ab 12

Der Film will ein Film über die Täter sein. Sehen wir deshalb die Täter in fiktionalen mit Schauspielern gespielten Szenen beim stramm Stehen, Marschieren, Morden, Kotzen, Saufen, Posieren, Fußball spielen, im Kino beim Anschauen von NS-Propagandafilmen, gesund, satt, jung und in Farbe? Die »radikal Bösen« sind allesamt »ganz normale« Menschen. Die Schauspieler reden nicht, ihre Gedanken werden eingesprochen. Es wird zitiert aus Tagebüchern, Briefen an die Lieben daheim, aus Kriegserinnerungen. Aus ihnen spricht das Bemühen, bei der blutigen Handarbeit in der Gruppe bestehen zu können, die Angst vor den Vorgesetzten, wir hören von selbstentlastenden Erklärungsversuchen – man erlöse schließlich das Kind, dessen Mutter schon erschossen worden sei, und Selbstmitleid. Auch um ihre Angehörigen machen sie sich Sorgen: »Liebe Heide, mache Dir keine Gedanken darüber – es muss sein«. Sie zeigen »Haltung« wie von Himmler in seiner berüchtigten »Posener Rede« gefordert.

Dann werden die deutschen Täter von Experten begutachtet: ihr Interesse ist vor allem ein psychologisches. Anschaulich erklären der Psychologe, Robert Jay Lifton (»Psycho-history«), Dave Grossmann (ehem. Psychologe in West Point), Roy Baumeister (Sozialpsychologe und Autor) in ausführlichen Interviews, wie aus (jungen) Männern erst Soldaten und dann willfährige Mörder (gemacht) werden, die dem Gruppendruck nachgeben, der Entmenschlichung ihrer Opfer zustimmen und die NS-Ideologie verinnerlichen und leben. Veranschaulicht wird das mit Spielszenen sozialpsychologischer Experimente, so das Konformitätsexperiment von Asch oder das Milgram-Experiment. Christopher Browning, Autor der Studie über das Reserve-Polizeibataillon 101 »Ganz normale Männer«, wendet dies auf die Einsatzgruppen an.

Die Opfer, die Ermordeten, bleiben übrigens schwarz-weiß, tauchen in historischen Filmaufnahmen und auf Fotos, in Listen: »Ukmerge – 298 Juden, 255 Jüdinnen, 88 Judenkinder; Lazdijai – 485 Juden, 511 Jüdinnen, 539 Judenkinder« und Einsatzbefehlen auf. Das ist auch folgerichtig – Tote reden nicht.

Ruzowitzky interessiert sich wenig für die historischen und politischen Bedingungen, aus denen das hier geschilderte Menschheitsverbrechen, der Holocaust und der NS-Vernichtungskrieg hervorgingen. Das ist die Schwäche oder der Irrtum dieses durchaus gut gemachten Films. Weder vermag er sich einer Beschreibung oder gar Erklärung der mörderischsten Variante des Antisemitismus, des deutschen Antisemitismus, Kernbestandteil der deutschen Faschismus und seiner Massenbasis anzunähern, noch dessen Aufstieg in der Weimarer Republik zu deuten, der von Anfang an von quasi staatlich und gesellschaftlichen sanktionierte Morden an Arbeiterfunktionären und Juden begleitet wurde, ausgeführt von Männerbünden wie z.B. den Freikorps. Waren das auch schon ganz normale Männer? Oder doch nur ganz normale Deutsche?

Der Film besticht trotzdem durch gut aufbereitete Fakten über den »vergessenen Holocaust« und vergisst nicht aufzuzeigen, dass die Straflosigkeit, die die Mordlust vieler Angehöriger der Einsatzgruppen noch beflügelte, in der frühen Bundesrepublik anhielt. Die meisten Täter, die in Nürnberg 1947/48 im »Einsatzgruppen-Prozess« zu hohen Strafen verurteilt wurden, kamen nach Übergabe an die bundesdeutschen Behörden nach wenigen Jahren frei. Der allergrößte Teil wurde nie vor Gericht gestellt. Also trotz einiger Bauchschmerzen – anschauen!