Aus der Sicht der Opfer
13. Mai 2014
Dokumentartheater-Projekt über den NSU-Terror in München
Das Publikum sitzt im offenen Viereck vor einer düsteren Bühne, schaut ins Laub, in eine Baumkrone, hört vor Spielbeginn Vogelgezwitscher. Ein komischer Baum. Wandert der Blick nach oben, vom Laub hinauf zur Hallendecke, zu den Scheinwerfern, die Baum und Bühnenraum nur dezent erhellen: verkehrte Welt. Ein paar kräftige Äste, ein kahler Stamm, der sich verbreitert und dann das Wurzelwerk frei schwebend in der Luft. Der Baum steht Kopf und hängt entwurzelt von der Decke.
Unter der Baumkrone bewegen sich drei Menschen in einem kargen Umfeld (Bühnenbild: Eva Maria Bauer), lassen sich auf verstreuten Sitzgelegenheiten nieder, treten da und dort an die Rampe, sprechen die Zuschauer direkt an, spielen unterschiedliche Rollen. »Urteile« heißt das Stück von Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi und im Untertitel »Ein dokumentarisches Theaterprojekt über die Opfer des NSU in München«. Dort, in München, auf der Residenztheater-Marstall-Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels, hat am 10. April die Uraufführung stattgefunden. Mehrere Vorstellungen fanden seither statt, oft begleitet von anschließenden Diskussionsveranstaltungen, weitere sind vorgesehen.
Das Thema Naziterror am Beispiel NSU hat derzeit bundesweit an mehreren Häusern Eingang in Theaterspielpläne gefunden. Vorwiegend sind es die Täterfiguren, die – unterschiedlichst interpretiert – in diesen Inszenierungen ins Blickfeld rücken. Schon deshalb verdient besondere Beachtung, dass am Ort des NSU-Prozesses, der in der breiten Medienwahrnehmung bisher weitgehend auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und deren engeres Nazi-Umfeld orientiert ist, hier einmal zwei Opfern und deren Angehörigen Bühnen(und damit Öffentlichkeits-)raum gegeben wird.
Dazu das Programmheft: »Am 29. August 2001 wurde Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen in München-Ramersdorf erschossen. Als Tatmotiv galt ‚organisierte Kriminalität‘. Am 15. Juni 2005 wurde Theodoros B. in seinem Geschäft in München-Westend erschossen. Die Zeitung schrieb: ‚Eiskalt hingerichtet – das siebte Opfer. Türken-Mafia schlug wieder zu‘. Die betroffenen Familien wurden nach den Morden von Sicherheitsbehörden, Medien, aber auch von ihrem unmittelbaren Umfeld zehn Jahre lang zu Unrecht verdächtigt. Statt trauern zu dürfen, wurden sie Ermittlungen und Anschuldigungen ausgesetzt.«
Davon handelt diese Aufführung. Anhand einer Fülle von Dokumentarmaterial zu diesen Vorgängen, von Interviews mit Verwandten, Freunden, Kollegen der Ermordeten, mit Juristen, Journalisten, Politikern haben die Autorinnen eine Sammlung von Fakten zusammengetragen, die – wie sie formulieren – »exemplarisches Fehlverhalten belegen können, das durch strukturellen Rassismus in Behörden, Medien und Alltag entstanden ist.«
Aus diesen Sachverhalten nun ein Theaterstück zu machen, eine, wie es im Programmheft heißt, »künstlerische Umsetzung des Projektes als theatraler Denkraum«, war ohne Zweifel eine gewaltige Aufgabe. Das Verdichten des Erfahrenen für einen Theaterabend (Regie: Christine Umpfenbach), der rund 140 Minuten ohne Pause dauert. »Immer wieder die Angst«, schreibt Ko-Autorin Azar Mortazavi, »die Opferangehörigen ein weiteres Mal um ihre Geschichte zu berauben, um diese dann auf der Bühne auszustellen. Sich also immer wieder klar machen: Es geht ums Exemplarische«.
Im »theatralen Denkraum« bewegen sich konzentriert die Schauspielerin Demet Gül und ihre Kollegen Gunther Eckes und Paul Wolff-Plottegg, fühlen sich souverän in ihre jeweiligen Figuren ein: Eltern, Schwiegereltern, Geschwister, Freundinnen und Freunde der Mordopfer, Medienleute, ein orthodoxer Geistlicher…. Leuchtschrift-Bänder auf der Bühne erläutern, wer gerade das Wort hat. Zunehmend entfaltet sich eine Chronique Scandaleuse, eine haarsträubende Bilanz tendenziös einseitiger staatlicher Ermittlungsarbeit, flankiert von nahezu ebenso tendenziösen Medienberichten. Eingestreut in die Faktensammlung sind Alltags-Erfahrungen von Menschen »mit Migrationshintergund«, die aufzeigen, wie institutioneller Rassismus und allgemein verbreitete Vorurteile und Klischees oft ineinandergreifen.
Bei der erfreulicherweise auch überregional beachtlichen Medienresonanz nach der Münchner Uraufführung war dann neben einer Be- auch eine gewisse Getroffenheit zu spüren. Vom »Zeigefinger« war die Rede, der gehoben würde »so lange bis es nervt«, von »Karikaturen«… Es kann ja darüber debattiert werden, ob jedes theatralische Stilmittel in diesem dokumentarischen Projekt adäquat eingesetzt ist. Die bisherige Aufarbeitung der Nazimordserie, ihrer Hintergründe und Umfelder, beweist jedoch beinahe täglich, dass es gar nicht genug Zeigefinger geben kann. Zum öffentlichen Weiter-Nerven.