Vom Leben im Versteck
13. Mai 2014
Eine junge Frau überlebt die Jahre 1940 bis 1945 in Berlin
Wenn die auflagenstärkste Berliner Tageszeitung schon auf ihrer Titelseite (»Untergetaucht in Berlin«) ein Buch offeriert, dann muss es herausragend sein.
Die Titel zur Judenverfolgung während der NS-Zeit sind inzwischen Legion. Romane, Erzählungen, Novellen gehören dazu, wie auch Biografien, Zeitzeugenberichte, Dokumentationen. Theater und Film haben sich schon lange des Themas angenommen. »Ab heute heißt Du Sarah« steht seit Jahren auf dem Spielplan des Grips-Theaters. Ist nicht schon alles dazu gesagt?
Marie Jalowicz Simon und die Geschichte ihres Überlebens hatte am 6. März 2014 in der Probebühne des Berliner Ensemble ihre Buchpremiere, zu der der S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) einlud. Knut Elstermann, Filmkritiker und Moderator, sprach mit Hermann Simon, dem Sohn der Marie J. S. Dank seiner Hartnäckigkeit, diesen Teil ihres Lebens preiszugeben, aufgezeichnet auf 77 Tonbänder, beginnend knapp ein Jahr vor ihrem Tod (1998), liegt uns nun dieses ungewöhnliche Dokument vor. Es mit wissenschaftlicher Akribie in eine Form zu bringen, die das Buch abhebt von den vielen anderen, gelang ihm und Irene Stratenwerth in vorbildlicher Weise.
Was bedeutete es tatsächlich für Juden in Deutschland, Anfang der vierziger Jahre als »U-Boot« (umgangssprachlich für Untergetauchte) zu leben? Dreizehn Orte waren es, an denen Marie Unterschlupf fand, mit gefälschtem Pass, immer in Angst vor Entdeckung und Deportation. Sie musste ihre bürgerliche Herkunft verleugnen, in Milieus eintauchen, die ihr fremd und oft widerwärtig waren. Die behütete »Kindheit und Jugend« gab es für die 18-Jährige plötzlich nicht mehr.
»Zwangsarbeit bei Siemens« heißt das 2. Kapitel, in dem sie die Versuche von sich und den anderen jüdischen Mädchen und Frauen beschreibt, trotz dieser verordneten Fron ein bisschen Selbstachtung zu bewahren – und sei es auf dem Klo!
In »Fluchtversuche und Untertauchen« schildert sie das verzweifelte Bemühen, die wahnwitzigsten Ideen (z. B. eine Scheinheirat mit einem Chinesen), die sie aber als Rettungsanker verstand, wenn sie ihren Plan, zu überleben, verwirklichen wollte.
»Der erste Winter im Versteck« lässt erahnen, wie demütigend diese gerettete Lebenszeit oft für sie war. Und in »Ein beinahe normales Leben ab 1943« ist dokumentiert, womit sie sich diese scheinbare Sicherheit erkaufen musste: An der Seite eines holländischen Fremdarbeiters, eines Cholerikers, der sie schlägt, anwidert; eine Alternative gibt es nicht für sie. Um diesen Zustand auszuhalten, verordnet sie sich ein »inneres Tagebuch«. Es wird für Marie Lebenshilfe und für uns Nachgeborene offensichtlich Quelle dieses einzigartigen Berichtes.
»Der Krieg ist zu Ende« beschreibt Maries letzte Wochen, die sie im ehemaligen Sommerhaus ihrer Eltern verbringt, von ihren »Rettern« geduldet, bis zum Schluss gedemütigt, obwohl das Ende des Krieges doch schon so nahe zu sein scheint …
Schonungs -und tabulos erzählt Marie Jalowicz Simon, dabei weder die eigene Familie, noch sich selbst und die Helfer aussparend. Sie ergeht sich nie in Selbstmitleid, analysiert glasklar die jeweilige Situation und deutet sie, wie sie es als Wissenschaftlerin gewohnt war. Marie wollte leben, der Mut der Verzweiflung war es, mit dem es ihr gelang, in den unterschiedlichsten, entwürdigendsten Situationen das Richtige zu tun.
Zielstrebig setzte sie diesen Weg nach der Befreiung fort. Sie studierte an der Humboldt-Universität, wurde Professorin für antike Literatur- und Kunstgeschichte, blieb in Berlin und schien keinen Widerspruch darin zu sehen, im öffentlichen Leben zu stehen und praktizierende Jüdin zu sein. Das Professoren-Ehepaar Simon war in der Ostberliner Jüdischen Gemeinde und darüber hinaus eine »Institution«.
Zeitgleich mit der Print-Variante erschien ein Hörbuch, gelesen von der Berliner Schauspielerin Nicolette Krebitz, die anwesend war und dem Gespräch zwischen Knut Elstermann und Hermann Simon durch Leseproben einen authentischen Eindruck von dieser Lebensschilderung vermittelte.
Hermann Simon, Wissenschaftler wie seine Eltern, ließ sich sehr viel Zeit mit der Herausgabe des Buches, überprüfte sämtliche Quartiere, Namen, erarbeitete ein Personenregister und schuf mit seinem Nachwort einen dem Text seiner Mutter adäquaten Appendix.
»Was würde Ihre Mutter, die sich doch so lange gegen Ihre Befragung gewehrt hat, zu diesem Buch heute sagen?«, fragte der Moderator. »Ich denke, dass es sie freuen würde«, antwortete Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.