Das Rad der Geschichte
14. Mai 2014
Wer verantwortet den Genozid der Sinti in Estland?
In den für Estland seltenen heißen Sommertagen versammeln sich seit fast zwanzig Jahren am Abhang eines Hügels in der Ortschaft Sinimäe unweit von Narva unter einem Gedenkkreuz ein paar Dutzend alter estnischer Männer und eine beträchtliche Zahl junger Esten. Fern vom Stadtlärm findet jeden Sommer das Veteranentreffen der 20. Estnischen Freiwilligen Grenadierdivision der Waffen-SS statt. Von Jahr zu Jahr sind es immer weniger »SS-Grenadiere«, die in blutigen Kämpfen mit der Waffe in der Hand den vorrückenden Einheiten der Roten Armee gegenüberstanden, doch immer mehr Jugendliche, die der 20. SS-Division ehrend gedenken.
Sinimäe ist der einzige Ort, an dem es den Verehrern der niederländischen und wallonischen Kollaborateure mit schweigend-wohlwollendem Einverständnis der estnischen Behörden gelungen ist, 2006 ein Denkmal für jene zu errichten, die in ihrer Heimat in Belgien und Holland als Verräter im Dienste von Hitler und der Waffen-SS gelten.
In der Regel wird das mit Fahnen geschmückte und in patriotischen Reden besungene Veteranentreffen der 20. SS-Division »aus politischer Korrektheit« nicht von den Mitgliedern der estnischen Regierung besucht, auch ist es schwer, dort Parlamentsabgeordnete anzutreffen, mit Ausnahme derer, die ihre politische Karriere mit dem Erstarken des radikalen Nationalismus verbinden. Auch polizeiliche Absperrungen fallen nicht ins Auge. Doch Unbefugte sind dort nicht willkommen, besonders jene nicht, die unangenehme Fragen stellen, oder an die Verantwortung der Uniformträger der Waffen-SS für Verbrechen gegen die Menschlichkeit erinnern könnten. Der Staat schützt durch seine Polizei das Recht, Verehrung für die Heldentaten der Veteranen der Waffen-SS zu bekunden und ihren Ruhm zu preisen und alle Jahre wieder behindert er Äußerungen eines anderen Standpunktes.
Im letzten Sommer haben sich zwei sehr alte Esten, ihrer Herkunft nach Sinti, in Begleitung von zwei etwas jüngeren Männern im Auto von Tallin durch ganz Estland auf die Reise gemacht, um die estnischen Veteranen der Waffen-SS daran zu erinnern, dass niemand und nichts vergessen ist. Zwei ehrwürdige alte Leute – Mitglieder der Vereinigung minderjähriger Opfer faschistischer Kerkerhaft – führten ein Plakat in estnischer Sprache mit sich »Wer verantwortet den Genozid der estnischen Sinti im Zweiten Weltkrieg?« Von der ganzen zahlreichen Sintigemeinde in Estland vor dem Krieg leben heute nur noch elf Menschen. Und daran ist nicht nur die Zeit schuld. Die estnischen Sinti auf estnischer Erde hat man mit Hilfe der estnischen Sicherheitspolizei, estnischer Polizeibataillone und estnischer Gefängnisaufseher während der Nazi-Okkupation 1941 bis 1944 fast vollständig vernichtet. Und so wollten nun zwei wie durch ein Wunder am Leben gebliebene alte Männer den Veteranen der »Estnischen Legion« die Frage stellen: Wer wird nun den Genozid seiner Sinti-Mitbürger verantworten?
Die beiden Sinti fuhren nach Sinimäe, doch angekommen sind sie dort nicht. Genauer gesagt, hat man sie nicht ankommen lassen. Das Auto mit den vier Männern wurde mehrfach von der Polizei gestoppt, sie prüfte die Papiere, den technischen Zustand des Fahrzeuges, ließ sich den Feuerlöscher zeigen, und all dasselbe noch einmal, und wieder und wieder. Alles wurde kontrolliert, wie in Filmen über böse Polizisten. Die Vertreter der Staatsmacht, so erzählen die alten Männer, nahmen sich viel Zeit, sehr lange wurden die Papiere überprüft, langsam und in allen Einzelheiten wurde das Protokoll über eine »Ordnungswidrigkeit« angefertigt: »Man hatte das deutliche Gefühl, dass sie die Zeit in die Länge ziehen.«
Die Hälfte des langen Sommertages war verbraucht für Kontrollen und Protokolle und den alten Männern wurde klar, dass sie zu der Veranstaltung schon zu spät kommen und ihre Frage: »Wer verantwortet den Genozid der Sinti?« jetzt niemandem mehr stellen können. Es blieb ihnen nichts übrig, als umzukehren.
Die SS-Veteranen und ihre Gleichgesinnten kehrten ruhig in ihre warmen und gemütlichen Häuser zurück und werden sich nicht an die Menschen erinnern, die z.B. für immer in den Erschießungsgräben des KZ Kalevi-Liiva liegen blieben.
Estnische Autofahrer wissen gut, dass ein gewöhnliches Fahrzeug von der estnischen Polizei in der Regel nicht angehalten wird. Man kann jahrelang durch die Republik fahren und erkennt die Verkehrspolizei nur aus der Ferne. Doch wenn Sie mit der Absicht unterwegs sind, gegen das Veteranentreffen der 20. SS-Division zu protestieren, dann steigen die Chancen einer aufmerksamen Beobachtung durch die Polizei um ein Vielfaches. Die Sinti unterwegs nach Sinimäe hatten das unauslöschliche Gefühl, beobachtet zu werden und dass alle diese »Verkehrskontrollen« inszeniert waren.
Estland ist ein kleines und ruhiges Land. Auf den Strassen der estnischen Städte marschieren keine Neonazis, im Parlament sitzen keine Vertreter von Parteien mit stabiler »brauner« Reputation. Doch das, was den alten Männern widerfuhr, passt erstaunlich gut in die Reihe von Ereignissen und Fakten einer Glorifizierung des Nazismus.
Vor einigen Jahren waren die Klassenräume des Deutschen Gymnasiums in Tallin mit Bildern des bedeutenden estnischen »Feldherrn«, des Standartenführers der Waffen-SS und Ritterkreuzträgers Alfons Rebane in SS-Paradeuniform geschmückt. Und nur die Empörung deutscher Diplomaten zwang die Schulleitung, die Bilder des SS-Offiziers abzuhängen. Übrigens blieb es der Schulleitung unverständlich, was denn die deutschen Diplomaten so empört hatte.
Heute beschränkt sich die Verherrlichung nazistischer Symbole und Ideen in Estland nur auf die Militärgeschichte, in der estnische Freiwillige ihre blutige Rolle spielten. Politische Philosophie und weltanschauliche Probleme berühren die einfachen Bewohner Estlands irgendwie wenig. Es scheint aber so, dass die Jugend aus den zerfransten Soldatentornistern der Veteranen der »Estnischen Legion« der Waffen-SS schon bald Breiviks Manifest als »Mein Kampf« einer neuen Generation herausholen wird.
In Kalevi-Liiva auf dem Weg zur am Meeresufer gelegenen Villensiedlung Kaberneeme, vierzig Kilometer von Tallin entfernt haben die Nazis während des Krieges Massenerschießungen durchgeführt. Dort wurden unter vielen anderen auch hunderte Zigeuner erschossen. Die heutige Sintigemeinde hat dort mit ihren bescheidenen Mitteln im Jahre 2007 ein Denkmal für ihre getöteten Leidensgenossen errichtet. Auf einem großen Stein aus Granit ist ein symbolisches Rad eines Zigeunerwagens eingehauen. Das Rad der Geschichte.