»Rot« gleich »Braun«?

14. Mai 2014

Vergangenheitspolitik in Litauen – Von Christian Carlsen

 

In Litauen lebten im Juni 1941 etwa 230 000 Menschen jüdischer Herkunft, über 90 Prozent von ihnen sollten unter deutscher Besatzung ermordet werden. Die präzedenzlose Effizienz verdankt sich der tatkräftigen Mithilfe litauischer Nationalisten, die mit den Deutschen das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« teilten.

Antikommunismus und Antisemitismus waren in den 1920er Jahren zu den beiden Kernelementen des litauischen Nationalismus geworden: In der Sowjetzeit (1940/41 und 1944-1990) fungierten sie als Ideologie des »Befreiungskampfes«, unter deutscher Besatzung (1941-1944) legten sie das Fundament für die Kollaboration. Und im demokratischen Litauen dominieren sie das kollektive Gedächtnis und entscheiden mit über die Frage, wer zur Nation dazugehört.

Genozid-Museum (Vilnius) mit Ehrung von Antikommunisten

Genozid-Museum (Vilnius) mit Ehrung von Antikommunisten

Während der litauische Tatanteil am Holocaust im kollektiven Gedächtnis der winzigen jüdischen Minderheit bis heute eine zentrale Rolle spielt, gilt die Nation der Mehrheitsgesellschaft als Opfer eines »doppelten Genozids«. Nach dieser Auffassung haben die Sowjetunion und NS-Deutschland beide einen Völkermord verübt. Der letzte konservative Außenminister Audronius Ažubalis formulierte ausgerechnet am 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz exemplarisch: Zwischen Hitler und Stalin habe es keinen Unterschied außer ihren Schnurrbärten gegeben, der von Hitler sei kürzer gewesen. Die Kollaboration mit den deutschen Besatzern wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass das Sowjetregime deshalb fast fünf Jahrzehnte funktionierte, weil es Unterstützung in der Bevölkerung hatte.

 

»Exil« und Sowjetzeit (1944-1990)

Die Theorie vom »Doppelten Genozid« entstand unmittelbar nach Kriegsende als Exkulpationsstrategie. Federführend war die Gruppe der »Exilanten«, die sich aus Antikommunisten und Kollaborateuren zusammensetzte, die vor der Roten Armee ins westliche Ausland geflohen waren. In einem Memorandum von 1946 erklärten sie sich rückblickend zu NS-Gegnern. Sie rechneten die Morde, die ethnische Litauer an ihren jüdischen Landsleuten verübt hatten, klein, und schoben die Schuld den Opfern selbst zu, indem sie diese zu Bolschewisten erklärten. Die widersprüchliche, aber wegweisende Argumentation lautete: Die Litauer seien unschuldig, doch hätten die Juden ihr Schicksal als »Agenten« der Sowjetmacht herausgefordert.

In der litauischen Sowjetrepublik war jüdische Identität tabu. Der Holocaust war kein Teil der Erinnerungskultur, und das Schicksal der Juden galt nicht als einmalig. Die Denkmäler, die die Überlebenden für ihre ermordeten Angehörigen errichtet hatten, wurden entfernt oder umgewidmet, jüdische Einrichtungen geschlossen. Das begründete sich nicht nur mit spätstalinistischem Antisemitismus, sondern hatte auch strategische Gründe: Hatte die Sowjetmacht zunächst kurzen Prozess mit NS-Kollaborateuren gemacht, versuchte sie vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, die antikommunistischen Kräfte zu befrieden. Die wenigen jüdischen Überlebenden, die in Litauen geblieben waren, wurden geduldet, weil sie überwiegend Partisaninnen und Partisanen gewesen waren und sich zum Kommunismus bekannten.

 

Demokratie (seit 1990)

Der Unabhängigkeitsprozess, in dem auch viele Litauer jüdischer Herkunft aktiv wurden, war von einer Aufarbeitung der sowjetischen Verbrechen begleitet. Zugleich erwachte die winzige jüdische Gemeinde zu neuem Leben und begann, an den Holocaust und den jüdischen Widerstand zu erinnern. Das Jüdische Museum eröffnete 1989, die Holocaust-Ausstellung 1991.

Einige Liberale und Konservative nichtjüdischer Herkunft unterstützten das aus »nationalem Interesse«. Es ist eine Frage des Standpunkts, darin einen Fortschritt zu sehen oder eine revisionistische Neuauflage des Assimilationsprojektes. In das anfängliche Nebeneinander der kollektiven Erinnerungen schlichen sich jedenfalls Schieflagen ein. Die Einführung eines erweiterten Genozidbegriffs ermöglichte die Anwendung auf Verbrechen der Sowjetzeit, immer öfter war vom »Roten Holocaust« die Rede.

1992 wurden das »Zentrum zur Erforschung von Genozid und Widerstand« und das »Museum der Genozidopfer« gegründet, wobei die Namensgebung Orwellsche Sprachpolitik ist. Die Einrichtungen thematisieren ausschließlich Sowjetverbrechen (»Genozid«) und feiern den Antikommunismus (»Widerstand«). Sinnfällig ist, dass das Gebäude des Museums bis vor kurzem als früheres KGB-Quartier präsentiert wurde. Dass die Gestapo hier ihren Sitz hatte und ein SS-Sonderkommando den Mord an den Wilnaer Jüdinnen und Juden koordinierte, fand keine Erwähnung.

Der Versuch von Liberalen und gemäßigten Konservativen jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft, die widerstreitenden kollektiven Erinnerungen zu harmonisieren, mündete 1998 in der Einberufung der staatlichen »Kommission für die Erforschung nationalsozialistischer und sowjetischer Verbrechen in Litauen«. Viele Linke und ein Großteil der jüdischen Gemeinde reagierten skeptisch und warnten vor einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus.

Tatsächlich erlitt der »Dialog« immer wieder Schlagseite nach rechts. So verabschiedete das Parlament 2000 ein Gesetz, das den 23. Juni – den Jahrestag des Aufstands gegen die Sowjetherrschaft von 1941 – zum Feiertag erklärte. Jener Aufstand war allerdings von Ultranationalisten ausgerufen worden, die mit den Deutschen kollaborieren und die Verfolgung der Jüdinnen und Juden unterstützen sollten. Zudem markiert der 23. Juni 1941 den Beginn des Holocausts in Litauen, denn die Aufständischen hatten vielerorts ihre jüdischen Nachbarn massakriert. Infolge von Protesten wurde der Beschluss revidiert.

Yitzhak Arad

Yitzhak Arad

Auch bei dem Versuch, die Verbrechen juristisch aufzuarbeiten, wurde die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt. Seit 1991 wurden nur drei NS-Kollaborateure angeklagt, und diese Verfahren wurden noch verschleppt. Den Vorwurf von Tatenlosigkeit kontert die litauische Politik, indem sie den angeblichen Aufwand zur Prüfung des – längst bekannten – Belastungsmaterials hervorhebt, auf »Ermittlungserfolge« verweist oder die anhaltende »sowjetische Mentalität« verantwortlich macht. Merkwürdig, dass in derselben Zeit 24 Verfahren wegen »Verbrechen gegen die Menschheit« oder »Genozids« unter Sowjetherrschaft eingeleitet wurden.

Zudem nahm die litauische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige sowjetischer Partisaneneinheiten wegen angeblicher Kriegsverbrechen auf. Dass es sich bei den Getöteten meist um NS-Kollaborateure handelte, fand keine Berücksichtigung. Initiiert von einer antisemitischen Pressekampagne wurde ab 2006 sogar eine Reihe von ehemaligen jüdischen Partisaninnen und Partisanen vernommen. Der erste Leidtragende war der prominente israelische Historiker Yitzhak Arad, der sich in der Hoffnung auf einen neuen litauisch-jüdischen Dialog zur Mitarbeit in der umstrittenen Kommission hatte überreden lassen. Er musste seinen Posten aufgeben.

Das auch von Liberalen bemühte Argument, die ehemaligen jüdischen Partisanen würden nur als Zeugen vernommen werden, ist belanglos. Denn die Öffentlichkeit differenzierte zu keinem Zeitpunkt, die Akten sind nicht geschlossen, und Arad fürchtet sich bis heute, sein Geburtsland zu besuchen.

Zudem verschleiert der Verweis auf die Gesetzmäßigkeit des Vorgehens die außerordentlichen Bedingungen, unter denen die Partisanen, insbesondere die jüdischen, agierten. Arad war gerade 16 Jahre alt und hatte seine gesamte Familie verloren, als er sich zu den sowjetischen Partisanen retten konnte.

Und auch wer in totalitarismustheoretischer Manier die »Hardliner auf beiden Seiten« zum Problem erklärt, verneint die strukturelle Macht-asymetrie hinter den widerstreitenden kollektiven Erinnerungen und den traumatischen Vertrauensbruch, den die Verfolgung der Juden auslöste. Dieser Bruch hat auf litauischer Seite schlichtweg keine Entsprechung. Zudem redet das Argument dem Schreckgespenst des »jüdischen Bolschewismus« das Wort: Litauische Rechte, so die Annahme, seien zwar zu radikal, »Zionisten« und »Kommunisten« provozierten sie aber erst. Vor diesem Hintergrund klingt der Ratschlag an Kritiker aus dem Ausland, sie schadeten am meisten der jüdischen Gemeinde in Litauen, fast wie eine Drohung. Es ist im Übrigen schlicht eine Tatsache, dass die litauische Politik oft nur auf internationalen Druck Schadensbegrenzung betreibt, sucht sie doch mit Blick auf Russland die Westbindung.

Während sie sich eine Fremdeinmischung verbieten, sind die Vertreter der Theorie vom »Doppelten Genozid« längst europaweit auf dem Vormarsch. Audronius Ažubalis erklärte programmatisch: »Jeder kennt die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber nur einem Teil Europas ist sich der Verbrechen des Kommunismus bewusst.« Er und seinesgleichen haben es in wenigen Jahren weitgehend geschafft, die Erinnerung an die Sowjetverbrechen der Gedenkkultur überzustülpen, die in 70 Jahren im Hinblick auf den Holocaust erstritten worden ist.