Vom Umgang mit Jahrestagen

18. Juli 2014

Die Erinnerung muss nicht auf Schmalkost reduziert werden. Von Kurt Pätzold

 

Im vergangenen Jahr 2013 wurde in den Medien und auf andere Weise vor allem zweier historischer Ereignisse gedacht: des 200. Jahrestages des Befreiungskrieges und des 80. Jahrestages des Be-ginns der Errichtung der faschistischen Diktatur. Beide Tage sind miteinander nicht in Konkurrenz geraten. Des antinapoleonischen Krieges gedachten vor allem Sachsen, wegen der Völkerschlacht, und ebenso Brandenburger, wegen der Schlachten bei Großbeeren und Dennewitz, mit denen den Truppen des Franzosenkaisers das erneute Vordringen nach Berlin verwehrt wurde. Während die Nachfahren der Preußen sich deren Rolle und an Männer wie Stein, Hardenberg, Blücher, Scharnhorst und Gneisenau erinnern konnten, waren die Sachsen schlechter dran. Hatten doch Truppenkontingente aus Landeskindern bis in die Völkerschlacht in den Armeen Napoleons gekämpft und manche waren dann übergelaufen, als sie erkannten, auf welcher Seite der Sieg sein werde. Obendrein war Sachsens König danach gefangen gesetzt worden, wenn auch in dem schönen Schlösschen, das heute Teil des Berliner Tierparks ist.

Nein, ein staatsweites Gedenken ist aus dem Ereignis nicht geworden, sind doch auch die Bayern, Württemberger und Badener, Mitglieder des von Napoleon gezimmerten Rheinbundes, erst spät auf Seiten des Bündnisses gewechselt, das Russen, Preußen und Österreicher geschlossen hatten. Von einer nationalen Erhebung kann mit Wahrheitsanspruch nicht die Rede sein. Die Geschichtswissenschaft hat sich definitiv von solch verklärenden Bildern verabschiedet, einschließlich des Preußenbildes, wonach der König rief und alle gekommen seien. Kurzum: Von diesem Befreiungskrieg hat man in Karlsruhe, wohin der badische Herzog nur zurückkehren konnte, weil ihm eine Verwandtschaft mit dem Zaren wieder auf den Thron verhalf, nicht sonderlich Notiz genommen.

Zur Bilanz des Gedenkens gehören einige verdienstvolle Ausstellungen, nicht nur in Leipzig und Dresden, sondern auch in kleineren Orten. Dazu die Spektakel des Kriegspielens, veranstaltet von Männerscharen, die in so genannten historischen Vereinen organisiert sind, und zu deren Freizeitgestaltung die militärischen Übungen gehören. In Leipzig und in Großbeeren präsentierten sie sich in Uniformen und mit den Waffen von einst. Tausende Gaffer beobachteten eine nur vermeintlich lebensnahe Darstellung des Schießens, Verwundetwerdens und Sterbens. Damit da nichts ausgelassen wurde, schafften die Veranstalter in Großbeeren Fleisch und Blut von Schweinen herbei, um ein Feldlazarett in Aktion vorführen zu können. Was sollen die peinlichen Schauspiele eigentlich sagen? Befragte Darsteller antworteten: Wie furchtbar der Krieg, wie schön der Friede ist. Darauf stößt hierzulande jeder nahezu jeden Abend, wenn er die Bildberichte in den Fernsehnachrichten verfolgt.

Es gab eine Möglichkeit, den Bogen von jenen zweihundert Jahre zurückliegenden Ereignissen in unsere Tage zu schlagen. Die Mobilisierung zum Kampf gegen die napoleonischen Besatzer und dann er selbst wurden zur Geburtsstunde des deutschen Nationalbewusstseins. Während das französische das Kind der Revolution war, wurde das deutsche das eines Krieges. Und es steigerte sich augenblicklich zum Nationalismus in Gestalt des Franzosenhasses, dessen literarische Äußerungen bis heute schaudern machen. »Schlagt ihn tot, das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht« und »staut den Rhein mit ihren Leichen« lauten Verszeilen aus jenen Zeiten. Und so hätte sich, ohne den Fakten Gewalt anzutun, fragen lassen, wie sie denn verlaufen ist, die Auseinandersetzung mit einem fremdenfeindlichen Nationalismus und wie weit es namentlich die Bundesdeutschen damit gebracht haben. Dafür bildete sich kein Bedürfnis.

Dass einem achtzigsten Jahrestag besonderes Gedenken gewidmet wird, war eher außergewöhnlich. Doch hatte die Aufmerksamkeit, die dem Tage galt, da Hitler in die Reichskanzlei und das Zimmer einzog, in dem einst Otto von Bismarck regiert hatte, möglicherweise einen Grund darin, dass wir hierzulande und weithin in Europa mit den Faschisten nicht fertig sind, die unter verschiedensten verharmlosenden Namen auftreten und über die mit dem inflationär benutzten Sammelbegriff Rechtsextremisten im Grunde auch nichts gesagt ist.

 Das Jahr 1933

Während die Historiker über die Geschehnisse des Jahres 1813 nicht mehr im Streit liegen, gilt das für die des Jahres 1933 nicht. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen die Ursachen und die Verursacher, die die deutsche Geschichte zu jenem verhängnisvollen Tag hintrieben. Auf der einen Seite stehen Verfechter der These, es seien eine kleine Gruppe von Personen und dann Millionen des Volkes gewesen, deren Handeln oder Verhalten in die Diktatur führten. Auf der anderen jene, die nach der Rolle der wirtschaftlichen, politischen und geistigen Eliten in der Republik seit deren Gründung fragen, also nach jenen, denen dieser Staat anfänglich Zufluchtsort, später aber Hindernis für ihre innen- und außenpolitischen strategischen Pläne war. Annäherung oder gar Versöhnung dieser Positionen steht, weil undenkbar, auch künftig nicht zu erwarten. Verändert hat sich im zurückliegenden nahezu Vierteljahrhundert jedoch das Kräfteverhältnis der Vertreter beider Standpunkte. Das hat die Marginalisierung der historischen Materialisten bewirkt, die nicht die einzige, aber die stärkste Gruppe derer stellten, die nach Interessen fragten, die den faschistischen Bestrebungen zum Siege verhalfen.

Auf dem von derlei Fragen weitgehend freigemachten Feld ließ sich am Jahrestag nun die Mär von dem halben Dutzend Böser, Ahnungsarmer oder Irrender protestlos verbreiten, die als Schuldige an jenem 30. Januar 1933 gelten sollen: Hindenburg Vater und Sohn, Hugenberg und Papen, dazu die beiden Bankiers Schacht und von Schröder. An deren Biographien ist angesichts der Tatsachen- und Quellenlage nichts zu retten. Wer sich mit dieser Schmalkost nicht zufrieden gibt und sagt oder schreibt, dass die faschistische Diktatur aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorwuchs und nach und neben anderen eine staatliche Herrschaftsform dieser Gesellschaft war, hat gute Aussicht in den Bericht des bayerischen Verfassungsschutzes zu geraten. In München weiß man schließlich aus geschichtlicher Erfahrung, wie es wirklich gewesen ist und sorgt sich obendrein darum, dass niemand der bürgerlichen Gesellschaft zu nahe tritt, denn schließlich leben wir noch in ihr, wenn auch auf einer anderen Entwicklungsstufe. Und: Bewältigung unserer Vergangenheit hin und her: Die ungezählten Straßen mit dem Namen Hindenburg, die sich in deutschen Städten in den alten Bundesländern antreffen lassen, haben auch dieses Gedenken überstanden.

Angesichts der Dichte der Ereignisse, die auf den vorletzten Januartag folgten, gab es wieder und wieder Anlass, sich jener achtzigsten Jahrestage zu erinnern, an denen die Etablierung der Nazidiktatur blutig und unblutig voranschritt. Mancher wurde gedacht wie des Reichstagsbrandes, des Tages von Potsdam, der Annahme des Ermächtigungsgesetzes. Sodann des Boykottages gegen die Juden, der wieder und falsch als die erste antisemitische Aktion bezeichnet wurde, denn die fand in deutschen Universitäten schon im März statt, als Nazistudenten vor Hörsälen aufzogen, ihre Kommilitonen vom Besuch der Vorlesungen jüdischer Professoren abzuhalten. Den Unterschied machen nicht so sehr nur wenige Tage, sondern die braun uniformierten Akteure, da die Söhne des Bürgertums vor Hörsaaltüren und dort vor den mit Davidsternen bemalten Einzelhandelsgeschäften die kleinbürgerlich-plebejische SA-Mannschaft.

Manche Ereignisse sind ganz übergangen oder in Feuilletons kaum erwähnt worden. Das galt für die Zustimmung der Restfraktion der Sozialdemokratischen Partei im Reichtag zur verlogenen außenpolitischen Rede Hitlers im Mai 1933, für die Auflösung der bürgerlichen Parteien Ende Juni/Anfang Juli und deren Aufrufe, sich hinter die »nationale Regierung« zu stellen, und für die Erklärung des Endes der »nationalsozialistischen Revolution« im Juli, was Anlass zur Auseinandersetzung mit der Verwendung des Begriffs Nationalsozialismus hierzulande hätte bieten können.

 

Der 1. August 1914

Nun also, und schon geraume Zeit bevor die Schwelle in das Jahr 2014 überschritten wurde, richtet sich der Blick auf jenen ersten Augusttag, an dem aus dem Krieg der K. u. K. Monarchie gegen Serbien ein europäischer und alsbald ein Weltkrieg wurde. Das ist ein Rückblick ohne Zeitzeugen. In Belgien, Frankreich, Russland, Serbien, Montenegro, Italien und Rumänien, wo sich die Kämpfe und Schlachten vor allem ereigneten, lebt kein Soldat mehr, der einer der Armeen angehört hatte. Die letzten starben hoch betagt am Beginn des 21. Jahrhunderts. Dennoch ist dieser Krieg den in dritter oder vierter Generation Nachgeborenen nicht vollends in »graue Vorzeit« entrückt. Gewiss, nur Großmütter können ihren Enkeln davon erzählen, was sie als Kinder und Heranwachsende von ihren Großmüttern über diesen Krieg hörten, die Geschichten vom großem Hunger und dem so genannten Steck- oder Kohlrübenwinter.

Doch ist es wohl nicht in erster Linie diese eben noch dünne Linie der Überlieferung, die in den Krieg zurückführt, der eine neue Art der Kriegführung brachte, die sich im russisch-japanischen Krieg 1904/05 und dann in den beiden Balkankriegen ankündigt hatte, aber von der Masse der Deutschen, und nicht nur von ihnen, nicht wahrgenommen worden war. Seine gedankliche Nähe beruht zum größeren Teil wohl darauf, dass auf ihn, den Weltkrieg, ein zweiter folgte. Vor allem dies trug dem dann als der Erste bezeichneten Krieg die wieder und wieder benutzte Kennzeichnung als »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts ein. Der Begriff findet sich zuerst in einem Buch, dessen Gegenstand die französisch-russischen Beziehungen der Jahre von 1875 bis 1890 bilden. Es stammt aus der Feder George F. Kennans und erschien 1979. Der US-amerikanische Historiker und Diplomat nannte den Krieg darin »the great seminal catastrophe of this century«, also ein grundlegendes oder eben für folgende Katastrophen bahnbrechendes Ereignis.

Nun wird die Berechtigung dieser Charakteristik beim Gedanken an den 1. September 1939, ein Ereignis, dessen 75. Jahrestag in diesem Jahr ebenfalls bevorsteht, niemand bezweifeln. Der Krieg der Jahre 1914 bis 1918 bedeutete für eine nie ermittelte Zahl von Menschen nicht nur in Europa sondern bis ins ferne Australien eine Katastrophe, für die Toten und viele Schwerstverwundete der Schlachten ohnehin, aber auch für Millionen von Frauen ohne Männer, Alte ohne die stützende Hilfe der Jüngeren, Kinder ohne Väter. Dennoch lohnt es sich bei dem Begriff Katastrophe einen Moment einzuhalten. Denn mit ihm werden zumeist Ereignisse bezeichnet wie Erd- und Seebeben, Erdrutsche, sintflutartige Unwetter mit Überschwemmungen, Dürreperioden oder Einschläge von Himmelskörpern. Sie entstehen ohne menschliches Zutun und wider menschliches Wünschen und Wollen. Die Betroffenen sind ihnen hilflos ausgeliefert. Es ist die Nähe zu dieser Begriffsverwendung, die die bloße Kennzeichnung eines Krieges als Katastrophe fragwürdig macht und, wird der Begriff benutzt, so etwas wie ein Sternchen und eine Anmerkung verlangt. Dieser Krieg wie andere vor und nach ihm waren Menschenwerk und dies auch in anderer Weise wie jene Katastrophen, die ganz oder teilweise dieses Ursprungs sind: Unglücke als Folge fehlerhafter Konstruktionen wie Zusammenstürze von Gebäuden und Brücken, solche im Verkehr zu Lande, in der Luft oder auf See, in Produktionsprozessen durch Einstürze unter Tage oder Explosionen. Katastrophen dieses Typs sind Menschenwerk, aber ungewollte Resultate eines Fehlverhaltens, niemand war an ihnen interessiert. Das aber gilt für Kriege nicht und namentlich nicht für diesen Krieg, der 1914 begann. Er kam zustande, weil in ihm Interessen verwirklicht und Ziele erreicht werden sollten. Das wäre, zur Vermeidung von Irrtümern, der Vorschlag, für den Text einer »Anmerkung« nach dem Wort »Urkatastrophe«.

Gewiss, das Resultat dieses Krieges und dessen Folgen hatte so, wie sie sich dann zeigten, niemand gewollt. Doch die ihn begannen, besaßen Bilder von den Vorteilen und Gewinnen die ihnen der Krieg und ihr Endsieg eintragen sollten und um deren Willen sie ihn vorbereiteten und auslösten. Es entschul-digt sie nicht, ja verringert nicht einmal ihren Schuldanteil, dass sie von der Katastrophe, die letztlich ihr Werk war, keine Vorstellung besaßen, zumal sie sich, denkt man an die politische und militärische Elite des Kaiserreiches, auch da hätten kundig machen können. Nicht, um nicht zuviel zu verlangen, bei Friedrich Engels und dessen prophetischen Blick auf den kommenden Weltkrieg, niedergeschrieben im Jahre 1887. Aber doch, da wären sie in ihren Kreise geblieben, bei Helmuth Graf von Moltke, dem preußisch-deutschen General-stabschef der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, der neunzigjährig, ein Jahr vor seinem Tode als Abgeordneter des Deutschen Reichstags in einer Rede vor einem Krieg warnte, der nichts gemein haben werde mit jenen, die zwanzig und mehr Jahre hinter ihm lagen.

Nun scheint dem von Kennan geprägten Begriff neuerdings ein anderer durch Publizisten zunehmend verbreiteter Konkurrenz zu machen, der das Jahr 1914 als Beginn des zweiten dreißigjährigen Krieges markiert. Diese Kennzeichnung findet sich bereits in den Jahren des Zweiten Weltkrieges und da in Rede- und schriftlichen Texten von Charles de Gaulle und Winston Churchill. In die internationale Geschichtsschreibung ist sie erst später gedrungen. Die Anregung, die es bietet, liegt zutage, stellt es doch eine Verbindung zwischen den beiden Weltkriegen her und verweist auf ihren Zusammenhang, freilich ohne dass über dessen Wesen etwas gesagt wird.

Ist aber die Bezeichnung der Jahre zwischen 1919 und 1938 als Kriegszeiten gerechtfertigt? Und sind die vielen begrenzten Kriege, die in den zwei Jahrzehnten stattfanden, Folgen und Fortsetzungen dieses einen, der in den Sprachen der Briten, Franzosen und Belgier der Große Krieg genannt wird. Lässt sich das für den polnisch-sowjetrussischen Krieg von 1920 sagen? Oder für die Eroberung Äthiopiens durch Italien 1935? Oder für die Kriege Japans auf dem asiatischen Kontinent?

Das Bild vom dreißigjährigen Krieg, das wäre der Haupteinwand, ordnet, gewollt oder nicht, die deutschen Faschisten als Fortsetzer eines Krieges ein, den »andere« begonnen hatten und den sie nun weiterführten. In Wahrheit verfolgten sie vom Beginn ihrer Herrschaft an ihren eigenen Plan, einen Krieg um der Ziele willen zu beginnen, die 1914 ff. verfehlt worden waren und die sie zwar geographisch partiell veränderten, aber noch weiter steckten – im Osten bis zum Ural. Zwischen den beiden Kriegen hatte der »alte« Kontinent, bevor das Jahr 1933 die Situation grundlegend zu verändern begann, jedenfalls Schritte hin zu einer Friedensordnung gemacht, inkonsequent, halbherzig und nicht von nachhaltiger Wirkung. In eine fortdauernde Kriegszeit lassen sich die Jahre nicht subsumieren.

Was immer sich den Begriffen »Urkatastrophe« und »zweiter dreißigjähriger Krieg« an Gedankenanstößen abgewinnen lässt, beiden haftet ein schwerwiegender Mangel an. Sie sagen nichts über das Wesen des Weltkrieges, stechen damit also von Kennzeichnungen wie Befreiungs-, Unabhängigkeits-, Bürger- oder Religionskrieg ab. Das tut indessen eine Charakteristik nicht, die keine nachträgliche Schöpfung ist, sondern vor und inmitten der Ereignisse gebräuchlich war. Sie lautete imperialistischer Krieg und war eine entlarvende Entgegensetzung zur Lüge vom Verteidigungskrieg, die dazu diente Millionen Deutsche im Glauben zu den Waffen zu rufen, sie müssten mit ihnen sich, ihre Familien, ihre Heimat, ihr Vaterland vor jenen schützen, die Deutschland nicht »hochkommen« lassen wollten und es eingekreist hätten.

Imperialistisch nannten diejenigen den Krieg, die seine entschiedensten Gegner waren. Dieser Begriff ist aus der für den Massenkonsum bestimmten Publizistik heute nahezu ganz entschwunden. Er und seine Verwandten können in der wissenschaftlichen Literatur jedoch in Wendungen wie denen von der imperialen Ideologie, imperialen Projekten und Plänen noch angetroffen werden. Und in der Tat: Wie sollen die Zeugnisse sonst benannt werden, die für den Drang stehen, aus der Großmacht Deutschland die Weltmacht Deutschland zu machen? Wie die Haltung des Staatssekretärs des Äußeren, Bernhard von Bülow, der 1897 in einer Reichstagsrede sagte: »wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne«, ein Bild in dem sich die Vorstellung ausdrückte, dass das 1871 gegründete Reich bisher noch im Schatten stehe? Und bezeugte dieses »auch« nicht den Anspruch auf eine Stellung gleich jener der großen Kolonialmächte England, Frankreich und in anderer Weise auch Russland? Bülow gelangte 1900 auf den Stuhl des Reichskanzlers.

Die diesen imperialistischen Grundkurs des Deutschen Kaiserreiches in Frage stellen wollten, verlangen mit Vorliebe nach einem Dokument, in dem wie auf einem Eisenbahnfahrplan die Stationen künftiger Eroberungen, die Kriegsziele en detail verzeichnet worden wären. Derlei existierte vor dem Ersten Weltkrieg in deutschen Regierungstresoren so wenig wie vor dem Zweiten. Es bedurfte seiner nicht. Doch die Beweise dafür, dass der »Griff nach der Weltmacht« ideologisch, militärisch und waffentechnisch in einer Weise vorbereitet wurde, die keinen Aufwand scheute und keinen Zweifel an seiner Verwendung ließ, ist massenhaft an Quellen belegt.

Wie erklärt sich dann aber die Weigerung, vom imperialistischen Krieg zu reden, in dem die Mittelmächte Deutschland und Österreich ihre Macht mehren, die Entente die ihre mindestens behaupten und den lästigen Konkurrenten bändigen wollten, was ihnen dann zeitweilig auch gelang? Und wie, dass hierzulande Schulgeschichtsbücher den Imperialismus als eine Zeit einordnen, die in dem einen Band 1914, im anderen 1918 zu Ende gegangen sei? In diesen abstrusen Thesen liegt womöglich die Antwort. Wer gedanklich einmal auf die Spur des deutschen Imperialismus gesetzt ist, fragt womöglich weiter, was denn aus diesen imperialen Bestrebungen geworden ist. Wann und wie haben sie sich verloren? Wer hat sich daran ein Verdienst erworben? Wie kam es, dass heute Kriege, häufig zu militärischen Einsätzen heruntergespielt, vom eigenen Lande weit entfernt geführt werden, einzig, wie beteuert wird, um Menschenrechte zur Geltung zu bringen und dem Ziel, der schönen ungeteilten demokratischen Welt, Bahn zu brechen?

Der Blick zurück aus dem Abstand eines Jahrhunderts bietet viel Stoff für Diskussionen und für Lernprozesse von aktuellem Nutzen. Es wird aber wohl etwas nachgeholfen werden müssen, damit er auf die Tagesordnung der Erinnerung kommt. Ohne dies werden die Gedenktage wie vordem schon sich in der Erkenntnis erschöpfen: Friede gut, Krieg schlecht.