Das Eigene und das Fremde
11. September 2014
Alojzy Twardeckis Bericht über seine »Germanisierung« und Repolonisierung
Auch Jahrzehnte nach dem Sieg über den deutschen Faschismus sind längst nicht alle von ihm verübten Verbrechen aufgeklärt und im Gedächtnis der Völker verankert. Zu den schlecht erforschten und heute kaum noch erinnerten Aspekten des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs gehört die unter der kruden Wortschöpfung »Rückvolkung« vollzogene Verschleppung von Kindern fremder Völker ins deutsche Reich mit dem Ziel ihrer »Umerziehung« und »Eindeutschung«. Obwohl Kinder aus allen von den Deutschen besetzten Ländern davon betroffen waren, fand ihr Schicksal lange Zeit wenig Beachtung. Dabei handelt es sich um eines der schwersten, ausgedehntesten und folgenreichsten Verbrechen des Nazi-Regimes. Allerdings wurde es auch systematisch verschleiert. Die Kinder erhielten eine neue Identität, man bemühte sich, alle Spuren ihrer Herkunft zu tilgen.
Angesichts des deutschen Rassenwahns erscheint die »Eindeutschung Fremdvölkischer« heute eher als absurde Idee. Doch sie kann als Beispiel dafür gelten, dass die Ideologie des Faschismus seinen ökonomischen und Machtinteressen folgte. Das 1942 im »Generalplan Ost« vorgesehene »Germanisierungsgebiet« umfasste Weißrussland, die Ukraine, das Baltikum (ohne Litauen), Russland bis zum Ural, die Krim sowie Böhmen und Mähren. Von den dort lebenden Völkern sollten bis zu 51 Millionen »rassisch Unerwünschter« erst nach Westsibirien verbracht und dann durch Hunger und Arbeit vernichtet werden. Dem stand eine viel zu geringe Zahl »germanischer Siedler« gegenüber, die den neu eroberten Raum besetzen konnte. Also musste »deutsches Blut« auch unter fremden Völkern ausgemacht werden. Als Kriterium für sein Vorhandensein wurde das »rassische Escheinungsbild« (blond, blauäugig, nordisch) herangezogen, ergänzt durch ein psychologisches Ausleseverfahren.
Die rassische Scheidung von Deutschen und »Rückdeutschungsfähigen« auf der einen und »Fremdstämmigen« (z.B. Polen) und »Fremdblütigen« (z. B. Juden) auf der anderen Seite wurde mit weitreichender Konsequenz vor allem in Polen praktiziert, das deshalb auch die größte Zahl von Opfern zu beklagen hatte .Die Schätzungen schwanken zwischen 150 000 und 220 000 geraubten polnischen Kindern. Die Verantwortung für dieses Verbrechen trug das Rasse- und Siedlungsamt der SS.
Dass deutschsprachige Leser nach mehr als 70 Jahren mehr über dieses Kapitel erfahren können, verdanken Sie der Tatsache, dass der Pole Alojzy Twardecki Mitte der 60er Jahre im Alter von 30 Jahren einen Bericht über seine Kindheit und Jugend verfasste. Sie begann nach seiner Erinnerung in einem deutschen Waisenhaus, in dem er in der Überzeugung aufwuchs, er sei der Sohn eines deutschen SS-Offiziers, der von polnischen Partisanen ermordet wurde und seine Mutter wäre bei seiner Geburt gestorben. Eindrücklich beschreibt er die faschistische Erziehung, die schon aus kleinen Kindern glühende deutsche Patrioten und Militaristen machte. Eine Familie aus Koblenz, der Vater hoher NSDAP-Funktionär, nahm den kleinen Alfred an Kindes Stelle an. Bis 1949 lebte er dort ein normales deutsches Leben – als guter Schüler, von seiner Familie geliebt und mit vielen Bekannten und Freunden verbunden. Auch nach der Niederlage des Faschismus war sein Denken (wie das der meisten Deutschen in seiner Umgebung) immer noch stark von faschistischer Ideologie geprägt.
Dass diese Welt für ihn zusammenstürzte, verdankt er seiner Mutter, Malgorzata Twardecka, die die Suche nach ihrem von den Deutschen geraubten einzigen Kind nie aufgegeben hatte und durch einen Zufall den deutschen Namen ihres Sohnes herausbekam. Es folgte eine heute kaum vorstellbare Schlacht zwischen deutschen und polnischen Behörden sowie der internationalen Flüchtlingsorganisation, die mit der Rückführung geraubter Kinder beauftragt war. Am Ende entschied sich der 16-Jährige Alfred aus sehr persönlichen Gründen, eine Einladung der Frau anzunehmen, die behauptete, seine Mutter zu sein. In seinem Bericht beschreibt er den darauf folgenden schwierigen Erkenntnis- und Veränderungsprozess, der ihn am Ende dazu brachte, seine polnische Identität zu akzeptieren und sein weiters Leben in Polen zu verbringen.
Ein unglaubliches Zeitdokument! Dass wir es, wenn auch mit großer Verspätung, jetzt kennenlernen konnten, verdanken wir der Hartnäckigkeit und Weitsicht des Sprachwissenschaftlers Christoph Koch, der den Bericht Twardeckis bereits vor 40 Jahren (!) ins Deutsche übersetzte, doch nie einen Verlag dafür fand. Jetzt ist er bei Peter Lang erschienen, eingeleitet durch ein umfangreiches Vorwort Kochs, in dem er die historischen Umstände des faschistischen Kinderraubs ebenso beleuchtet wie die Leerstellen der Forschung in diesem Bereich. Viele Dokumente ergänzen das Ganze. Christoph Koch, seit vielen Jahren Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, vermittelt den Lesern mit diesem Buch einen tiefen Einblick in die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Geschichte. Für deren Verständnis ist vielleicht erst jetzt die Zeit gekommen.