Deutschland und der 1. Weltkrieg

geschrieben von Jörg Wollenberg

15. September 2014

Was in der neue Kriegsschulddebatte unbeachtet blieb

 

Einhundert Jahre nach dem »Ausbruch« einer »Urkatastrophe« taucht in den Medien die alte Frage wieder auf: Wie steht es um die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges? Ein Buch steht dabei im Zentrum der Diskussion: »Die Schlafwandler« – Ein deutschnationaler Bestseller (Arno Klönne) aus der Feder des australischen Historikers Clark, der belegt, dass die Sichtweise auf 1914 offensichtlich nach wie vor strittig ist. Eine neue Kriegsbücherflut ist die Folge jener alten Frage nach den »Lehren aus der Geschichte«. Ein erinnerungspolitisches Thema mit aktueller Bedeutung, ohne dass dabei die Gutachter zur Dolchstoßlegende zu Wort kommen, die früh und lange vor Fritz Fischers »Griff nach der Weltmacht« von 1961 die Schuld der deutschen Militärs und politischen Eliten als Verursacher des Weltenbrandes von 1914 nachgewiesen haben.

Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Christopher Clark, 2013, 896 Seiten, 41,20 Euro

Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Christopher Clark, 2013, 896 Seiten, 41,20 Euro

Dagegen unterstützt die offizielle deutsche Politik mit Bundespräsident Gauck heute die neu-alte deutschnationale Sichtweise, die die Kriegsschuldfrage von 1914 »europäisiert«, Wir erleben eine Neuauflage der vor 90 Jahren vom englischen Außenminister Lloyd George aufgestellten These, das Deutsche Reich sei in den Ersten Weltkrieg »hineingeschlittert«, nicht anders als seine Verbündeten wie auch seine Gegner. Hinter dieser Schlitterpartie der Schlafwandler verbirgt sich eine geschichtspolitische Weichenstellung: Der Versuch der Konservativen, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch missglückte Deutungshoheit über die deutsche Geschichte nach dem von Fritz Fischer ausgelösten Historikerstreit zurück zu gewinnen. Außerdem bieten sich Bezüge zu gegenwärtigen internationalen Konflikten an.

So kritisierte der Bundestagsabgeordnete der CSU Peter Gauweiler die westliche Ukrainepolitik als »gefährliche Kraftmeierei« und fragte warnend: »Wollen wir ein neues 1914?« Postwendend denunzierte der stets westlich orientierte Historiker Heinrich August Winkler diese und ähnliche Positionen in einem Spiegel-Essay als »Russlandversteher«, dem prominente »Putin-Versteher« wie Erhard Eppler oder Klaus von Dohnanyi entgegentraten. Unübersehbar ist, dass die Erinnerungsfeiern von zahlreichen Repräsentanten der politischen Eliten, den »Kritikern aus Beruf«, dazu benutzt werden, um mit dem Blick auf aktuelle Konflikte im Nahen Osten und in der Ukraine den folgenreichen Schandfleck der deutschen Politik von 1914 zu entsorgen und unter dem Vorzeichen eines integralen Nationalismus den Prozess der Entliberalisierung der politischen Kultur in Deutschland zu fördern.

 

Ideen und Ziele von 1914

Erinnern wir deshalb noch einmal an das »Vorbild« von 1914, das in der Kontrastierung der »Ideen von 1914« mit denen von 1789 kulminierte. Dieses Intellektuellenprodukt förderte 1914 den anschwellenden Chauvinismus und Antisemitismus in Deutschland. 3016 »deutsche Bekenner«, die der »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« vom 16. Oktober 1914 gefolgt waren, verkündeten: »Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Sieg hängt, den der deutsche Militarismus erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen deutschen Volkes.« Überheblich proklamierten Dichter und Denker zu Kriegsbeginn: »Serbien muss sterbien« und »Jeder Stoß ein Franzos; jeder Tritt ein Brit; jeder Schuss ein Russ«. Eine imponierende Reihe von Schriftwerken entstand als Folge der Kriegsbegeisterung. Mit dabei als Kriegsbefürworter waren neben prominenten Vordenkern wie Ernst Jünger, Thomas Mann, Adolf von Harnack oder Friedrich Meinecke auch Politiker aus den Reihen der noch geeinten SPD und Vorstandsmitglieder der Generalkommission der Gewerkschaften. Zeitgleich dazu veröffentlichten völkische und antisemitische Gruppen der »Alldeutschen« gigantische Annexionspläne, u.a. mit der Ukraine als »Kornkammer Deutschlands«. Und Walther Rathenau legte als führender Repräsentant der deutschen Elektroindustrie (AEG) schon am 7. September 1914 eine Denkschrift an den Reichskanzler vor, in der wünschenswerte Kriegsziele Deutschlands in einer globalisierten Welt festgehalten wurden: »Die Zukunft zeigt uns den Aufstieg des angelsächsischen und den des östlichen Wirtschaftskörpers; es ist die Aufgabe, den alt-europäischen zu verwalten und zu stärken« und gleichzeitig zur politischen und wirtschaftlichen Deklassierung Frankreichs und Englands beizutragen: »Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung« blieb sein Projekt auch im Dienst der Weimarer Republik, bis der assimilierte Jude und Mitgründer der liberalen DDP 1922 Opfer der Demokratiefeinde von rechts wurde. »Der Feind steht rechts« verkündete Reichskanzler Joseph Wirth vom katholischen Zentrum nach dem Mord an Rathenau; eine Einschätzung, die sich verhängnisvoll nicht erst 1933 bestätigte.

 

Entschiedene Kriegsgegner

Grund genug, um noch einmal an jene Kriegsgegner zu erinnern, die schon 1914 verfolgt und nach 1919 ermordet wurden oder, wenn sie nicht rechtzeitig ins Exil gingen, 1933 im Konzentrationslager landeten. Zum Beispiel Erich Mühsam, der als »Anarchist, Antimilitarist, Feind der nationalen Phrase, als Antipatriot und hassender Kritiker der Rüstungsfurie« (so seine Selbstcharakterisierung im Tagebuch vom 4. August 1914) zeitlebens ausgegrenzter Schriftsteller. Er plädierte mit Heinrich Mann Ende August 1914 für die »Gründung eines ›Internationalen Kulturbundes gegen den Krieg‹.« Ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Weltanschauungen und Parteien sollten sich alle zusammenfinden, die »den Krieg unter allen Umständen als kultur- und menschenunwürdig ansehen. Anarchistische und sozialdemokratische Antimilitaristen müssten sich also – natürlich bei voller Wahrung ihrer verschieden Ansichten – überwinden, sich mit bürgerlichen Pazifisten und selbst Klerikalen zu verbünden. Ganz besonders müsste bei Frauen-Organisationen geworben werden, da bei den Frauen aller Schichten naturgemäß der gefühlsmäßig tiefste Abscheu gegen die Scheußlichkeit des Kriegs vorausgesetzt werden kann«. So Erich Mühsam in einem Brief an Karl Liebknecht am 5. Dezember 1914, verbunden mit den Glückwunsch »zu Ihrer mannhaften Demonstration im Reichstag, die mich und außer mir viele, die sich nicht aussprechen mögen, mit lebhafter Freude und Sympathie erfüllt«. Der engagierte Kriegsgegner und Verteidiger der Münchener Räterepublik von 1919 beteiligte sich an allen »Kampfkomitees« gegen den aufkommenden Nationalsozialismus, die ihn früh als »meistgehassten Roten« verfolgten, ihn noch in der Nacht des Reichstagsbrandes verhafteten und schließlich am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS ermorden ließen.

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Ein ähnliches Schicksal erlebte der Arzt, Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933), den die Nationalsozialisten als ersten Deutschen im Ausland am 30. August 1933 in Marienbad ermorden ließen. Wie Erich Mühsam war er zu Kriegsbeginn 1914 wegen seines »undeutschen« Aussehens von den Massen bedroht worden, die im August 1914 in wahre Hysterie geraten waren und überall Spione witterten und Russen ins Land kommen sahen. Er musste um sein Leben fürchten. Durch den drohenden Kriegsausbruch und das Versagen der SPD »an den Nerven krank und dem Zusammenbruch nahe« wollte er, wie Rosa Luxemburg, Hand an sich legen. In den Tagebuchnotizen vom 2. August 1914 schildert Lessing, wie er sich in ein Sanatorium bei Goslar begibt und bei der Ankunft auf dem Bahnhof vom Stationsvorsteher verhaftet wurde, »weil man mich für einen Russen hielt…Schon an den vorigen Tagen hatte man in Hannover 14 Russen als vermeintliche Spione erschossen… Russisch oder überhaupt nur fremdländisch aussehende Männer und Frauen wurden bei der Mobilisierung auf den Straßen angefallen und misshandelt.« Lessing flüchtete unmittelbar nach Kriegsausbruch als Arzt in ein ambulantes Lazarett, um seiner militärischen Dienstpflicht zu entgehen und dennoch mutig ab Herbst 1914 Vorträge zu »Krieg und Not« und »Krieg und Armut« im kleinen Saal der TH Hannover zu halten – geboren »aus jener Stimmung von Schmerz, Scham und tiefen Menschenekel, die eine kleine Schar Einsamer und Unzeitgemäßer aus allen Ländern zusammenschmiedete, in dem selben Augenblick, wo Europas Menschen – allen voran die führenden Geister– im großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten«.

 

Gegen die Kriegsschuldlügen

Am Tag nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten (1925) verletzte ein junger Pazifist aus den Reihen der Jungsozialisten ein weiteres nationales Tabu: Der 23-jährige assimilierte Jude Walter Fabian veröffentlichte im Auftrag der Deutschen Liga für Menschenrechte und der Deutschen Friedensgesellschaft ein Buch zur Kriegsschuldfrage und zu dem vom »Kriegsschuldreferat« des Auswärtigen Amtes stilisierten »Schandparagraphen«, dem Artikel 231 des Versailler Vertrags. Er verstieß damit gegen die zentrale Lebenslüge der Weimarer Republik. Ebenfalls 1925 legte der jüdische Staatsrechtler Herrmann Kantorowicz sein »Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914« vor – im Auftrag des parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges verfasst. Es durfte unter Druck des Auswärtigen Amtes nicht veröffentlich werden. Kantorowicz, 1929 Nachfolger des Reichsjustizministers Gustav Radbruch auf dem Lehrstuhl für Strafrecht in Kiel, war den schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt. Im Juni 1967 hielt dazu der zum Bundespräsidenten gewählte Sozialdemokrat und Kriegsgegner Gustav Heinemann im Geleitwort zur Erstveröffentlichung des Gutachtens fest: »Kantorowicz hatte es gewagt, das damals im Deutschen Reich fast Undenkbare zu denken, schriftlich zu fixieren und gegen eine demokratisch verfasste Obrigkeit zu verfechten. Er ist daran zerbrochen und anschließend in die Fremde getrieben worden.«