Versuche der Umdeutung

geschrieben von Eckart Mehls

23. September 2014

Zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen

 

Vor fümf Jahren, zum 70. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen, las ich im Heft 4/2009 des in Polen erscheinenden »Przegląd Socjalistyczny« einen Artikel des bekannten Philosophen, Friedensforschers und Diplomaten Prof. Dr. Marian Dobrosielski unter dem schlichten Titel »1 września 1939. 70 lat później« (1. September 1939. 70 Jahre später). Der Autor, u.a. von 1969 bis 1971 Botschafter der Volksrepublik Polen in Großbritannien und anschließend bis 1980 Direktor des »Polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten«, setzte sich, unter Hinweis auf die damals bereits kaum noch zu überblickende Fülle der dem Überfall auf Polen und dem damit ausgelösten Zweiten Weltkrieg gewidmeten wissenschaftlichen Literatur, kritisch mit den vielfältigen Versuchen von Legendenbildungen, Verzerrungen des historischen Geschehens und politischer Instrumentalisierung der Geschichte auseinander. In Erinnerung rief er in diesem Zusammenhang die Mahnung des bedeutenden polnischen Historikers Józef Szuijski (1835-1883): »Falsche Geschichte zeugt falsche Politik.«

In der Tat. Bis ins Groteske gehende Versuche der Umdeutung des tatsächlichen Verlaufs der Vorgeschichte des Krieges und nicht zuletzt auch seiner Ergebnisse, Folgen und Lehren sind eine bestürzende Bestätigung der genannten Warnung. Das »Nie wieder Krieg!«, weltweit als eine von weitesten Kreisen der Bewohner unseres Erdballs aus dem schrecklichen Geschehen der Kriegsjahre und angesichts der Hekatomben von Toten, Verkrüppelten und Entwurzelten beschworene Forderung, musste immer weiter vor erneuter Bejahung des Krieges und militärischer Gewalt aller Art, unter dem Mantel welch wohltönender Phrasen auch immer, zurückweichen. Fragen nach Kriegsschuld und Verantwortlichen für fatale politische Fehler im Vorfeld des Krieges, seien sie aus profitorientierter Politik und ihr entsprechender Gesellschaftsordnung erwachsen, seien sie ideologischer Verbohrtheit und ihr entsprechender angeblicher »Alternativlosigkeit« der Politik zuzuordnen, werden zunehmend abgewehrt. Mythen, Legenden, aus ferner Vergangenheit erneut wiederbelebte Stereotype und dreiste Fälschungen sind, statt der berechtigten Fragen nach Triebkräften und Interessen der Herrschenden jener Zeit, an der Tagesordnung. Aus Tätern wurden in nunmehr vorherrschender deutscher Sicht Opfer. Aus Militärs und Befehlshabern, die aus politischen Motiven die Konsequenzen ihrer Entscheidungen leichtfertig missachteten und im August 1944 in Warschau einen Aufstand auslösten, der zu mehr als 200.000 Toten und der völligen Zerstörung der Stadt führte, wurden in nunmehr vorherrschender polnischer Sicht kritiklos zu bewundernde Helden.

An die Stelle gründlicher und sachlicher Auseinandersetzung mit der Verantwortung Deutschlands für die Auslösung des Zweiten Weltkrieges (nach dem Motto: Hitler war es!) geriet der Kult um die Deutschen als Opfer immer stärker in den Vordergrund. Und alle Ansätze einer öffentlichen Auseinandersetzung mit den revanchistischen Forderungen der deutschen Vertriebenenverbände, denen überdies zunehmend mehr Ehre zuteil wurde durch die Teilnahme höchster Repräsentanten des Staates an ihren Opferritualen, führten zu nicht mehr, als zum Wandel des ursprünglich geforderten »Zentrums gegen Vertreibungen« in das im Aufbau befindliche »Sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung«, das dazu beitragen soll, »Erinnerung und Gedenken an das »Jahrhundert der Vertreibungen« und das damit verbundene tiefe menschliche Leid wach zu halten, die junge Generation an das Thema heranzuführen«, wie es u. a. in der offiziellen Konzeption der Bundesregierung heißt.

Der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen sollte angesichts all dessen auch Gelegenheit sein, an den vor mehr als zehn Jahren, nämlich 2003, von Prof. Dobrosielski öffentlich unterbreiteten Vorschlag zu erinnern, dass es wohl angebrachter sei, anstelle eines Zentrums gegen Vertreibung, also einer Kriegsfolge, in Berlin ein gemeinsam von den Regierungen der BRD und Polens initiiertes gesamteuropäisches »Zentrum gegen Kriege« zu schaffen – der weder in Polen noch in der BRD auf offene Ohren stieß.

Dass heute Europa, inmitten einer Welt voller Spannungen und Kriege, weiter entfernt von der Realisierung eines solchen Schrittes als vor zehn oder fünf Jahren ist, macht es umso dringlicher, dieses Ziel nicht nur am 1. September jeden Jahres im Auge zu behalten.