Der kleine Weihnachtsfrieden

geschrieben von Stephan Lippels

12. November 2014

Erinnerungswertes aus der Geschichte des Ersten Weltkrieges

 

Im Dezember 1914, mitten im Ersten Weltkrieg, kam es zu dem, was Michael Jürgs mit seinem Buchtitel als »Der kleine Frieden im Großen Krieg« bezeichnet: mehrwöchige Feuerpausen, oder, falls befohlen, Feuer weit über die Köpfe der »Feinde«, gemeinsamer Gesang, Treffen mit regem Tauschhandel, sportliche Wettkämpfe usw.

Obwohl der Jubel zu Beginn des Ersten Weltkriegs häufig inszeniert war, gab es doch nicht wenig Begeisterung: In Deutschland gingen z. B. viele Schulklassen, angeführt von ihren Lehrern, zur Musterung. Bereits nach kurzer Zeit an der Front war diese Begeisterung jedoch bei der Mehrheit verflogen. Von den zu Kriegsbeginn 18 bis 22jährigen fielen 37 Prozent – nicht wenige noch mit den Blumen vom Abschied am Helm. Neben der Todesgefahr belasteten der ständige Lärm, die Läuse, miese Verpflegung, Ratten, welche nicht nur die überall sichtbaren Leichen fraßen, sondern auch lebende Katzen, Hunde und Menschen anfielen, und der Schlamm. Schlamm in den Schuhen und der Wäsche, im Graben, manchmal bis zum Hals oder sogar bis über den Hals.

Der kleine Frieden im Großen Krieg Verlag: C. Bertelsmann, Euro 14,99

Der kleine Frieden im Großen Krieg
Verlag: C. Bertelsmann, Euro 14,99

Vor dem 24.12.1914 wurden hin und wieder kurze Feuerpausen an den Frontabschnitten vereinbart, um zumindest die Toten zu begraben oder die Verwundeten zu bergen, welche sonst im Niemandsland verdursteten, verbluteten oder von den eigenen Leuten den »Gnadenschuss« bekamen.

Am wenigsten Bereitschaft zu einer Kriegsunterbrechung zeigte sich bei den Belgiern und Franzosen, fand doch der Krieg in ihrer Heimat statt. Die Preußen waren wegen 1871 weitgehend gefürchtet und verhasst. Einerseits war die deutsche Einheit durch »Blut und Eisen« (Bismarck), d.h. den nicht immer freiwilligen Anschluss der Fürstentümer an Preußen erfolgt. Im Deutschen Reich waren deshalb ähnliche Geisteshaltungen und Vorurteile übereinander vorhanden, wie heute in Folge des Jahres 1990. Andererseits erinnerte man sich in Frankreich noch an die Schändung von Paris und die Demütigung in Versailles. Schotten und Engländer dagegen, Sachsen und Bayern fanden aus unterschiedlichen Gründen viel häufiger zum Frieden mit der Gegenseite und dieser dauerte in manchen Abschnitten trotz heftiger Drohungen durch die Führung sogar bis Ende Februar.

Jürgs’ Buch ist eine lebendig geschriebene Sammlung von Anekdoten, Zitaten aus Feldpostbriefen, Heeres- und Zeitungsberichten, Gedichten und Liedern, abgerundet durch die Nacherzählung einer Kurzgeschichte, welche wirkliche Geschehnisse in einem fiktiven Rahmen wiedergibt. Aufgelockert wird die Lektüre durch zahlreiche Bilder. Auch zur Rolle der Kirchen schreibt Jürgs einiges. Eine wertvolle Ergänzung wären lediglich Informationen über die Arbeiterbewegung gewesen, doch dafür gibt es z.B. Sebastian Haffner, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. An wenigen Stellen wäre eine Überarbeitung nötig: So schreibt er in der 5. Auflage des Buches von 2003, dass ein Krieg in Europa inzwischen unmöglich sei – der Angriff 1999 auf Belgrad unter ähnlichen Vorwänden und nach einem fast gleich lautendem praktisch unerfüllbaren Ultimatum wie 1914, lag da schon vier Jahre zurück.

Man spürt bei aller Objektivität und umfangreicher Quellenarbeit die Haltung des Autors: »Ein Werftarbeiter aus Glasgow oder Liverpool ist einem aus Hamburg oder Kiel eben näher als dem eigenen Offizier, dessen Sprache er spricht, aber nicht versteht.« Jürgs zeigt, dass der Krieg von Menschen mit bestimmten Interessen bewusst gemacht wurde und deshalb auch von Menschen, wenn 1914 nicht verhindert, so zumindest zeitweise beendet werden konnte – mit dem Weihnachtsfrieden als Massenbewegung von unten.

Die 350 Seiten des Buches waren an einem Wochenende gelesen und weckten das Bedürfnis, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Das Buch diente als Vorlage für den Film »Joyeux Noël / Merry Christmas« von Christian Carion, den die VVN Ingolstadt kurz vor Weihnachten zeigen will.

Die weltweite Verbreitung von »Stille Nacht« und die Beliebtheit des Fußballs sind neben zahlreichen Kunstwerken die bleibenden Dinge von 1914. In den nächsten Jahren folgten unterschiedlich starke Verbrüderungen an den Fronten, bis schließlich die umgedrehten Gewehre der deutschen und russischen Soldaten an der Ostfront dem Krieg ein Ende setzten.