Die »Mühlviertler Hasenjagd«

geschrieben von Gerald Netzl

4. Januar 2015

Mordaktion gegen sowjetische Flüchtlinge aus dem KZ Mauthausen

Im März 1944 erging reichsweit ein Geheimbefehl (»Kugel-Erlass«) mit der Weisung, aus deutschen Kriegsgefangenenlagern entwichene Offiziere sowie ranghöhere Unteroffiziere nach ihrer Ergreifung vom Sicherheitsdienst (SD) in das Konzentrationslager Mauthausen zu überführen und sie dort »im Rahmen der ‚Aktion Kugel‘ zu erschießen«. Über Wochen und Monate wurden diese Häftlinge von den anderen Häftlingen isoliert, unter unmenschlichsten Bedingungen und fast ohne Nahrung im Block 20 eingesperrt und nach und nach erschossen. Sie wussten, sie alle waren totgeweiht. In der tiefwinterlichen Nacht zum 2. Februar 1945 unternahmen ungefähr 500 »K«-Häftlinge, fast ausnahmslos sowjetische Offiziere, einen Ausbruchsversuch. Mit zwei Feuerlöschern aus ihrer Baracke und verschiedenen Wurfgeschossen griffen sie die Wachtürme an und es gelang ihnen auch, einen davon zu erobern. Der stromführende Stacheldraht wurde mit feuchten Decken kurzgeschlossen und so konnten die Häftlinge die Mauer überklettern. 419 Menschen gelang die Flucht.

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Viele der Geflüchteten blieben wegen ihres schlechten körperlichen Zustands vor Erschöpfung schon kurz nach der Mauer liegen. All diejenigen, denen es nicht geglückt war, in die Wälder zu entkommen, wurden noch in derselben Nacht von SS-Angehörigen erschossen. Unmittelbar nach der Flucht wurde von der SS eine Großfahndung eingeleitet, an der SS, Gendarmerie, Einheiten der Wehrmacht, SA-Abteilungen und Hitlerjugend-Gruppen teilnahmen. Die SS-Lagerleitung wies die Beamten der Gendarmerie an, »niemand lebend ins Lager zurückzubringen«.

Die Treibjagd auf die Entflohenen, an der sich schließlich auch noch Angehörige des Volkssturms und der Feuerwehr sowie Teile der Bevölkerung beteiligten, dauerte drei Wochen lang. Von der SS wurde diese Menschenjagd zynisch »Mühlviertler Hasenjagd« genannt. Interessanter Weise ist dieser Begriff in das antifaschistische Narrativ übernommen worden.

Bis auf elf Offiziere, die entweder bei Bauern Unterschlupf finden oder sich bis Kriegsende in den Wäldern verstecken konnten, wurden alle Geflüchteten wiederergriffen und zumeist sofort an Ort und Stelle ermordet.

BMI / Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

BMI / Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Der nach Kriegsende angefertigte Bericht des Gendarmerie-Majors Johann Kohout, Postenkommandant in Schwertberg, zeigt die außergewöhnliche Brutalität der Ereignisse: »Die Straße von Mauthausen war bereits vom Volkssturm besetzt. Die Leute waren wie bei einer Treibjagd aufgestellt. Es ging sehr wüst zu. Geschossen wurde auf alles, was sich rührte. … Der Schneematsch auf der Straße färbte sich mit dem Blut der Erschossenen. Überall, wie und wo man sie antraf, in den Wohnungen, Wagenhütten, im Kuhstall, am Heuboden, im Keller, wenn man sie nicht herausholte und beim nächsten Hauseck erledigte, erschoss man sie auf der Stelle, egal wer anwesend war … einigen spaltete man das Haupt mit einem Beil. … In der sogenannten Lem-Villa wohnte ein gewisser …, dessen Frau hörte am Abend beim Füttern der Ziegen in der Futtervorratskammer ein Geräusch. Sie holte ihren Mann, der einen Flüchtling aus dem Versteck hervorholte … Der Bauer stach diesem armen Menschen mit seinem Taschenmesser in den Hals, dass das Blut spritzte. Die Frau sprang hinzu und versetzte dem Sterbenden noch eine Ohrfeige.«

Der Ausbruch selbst und die Tatsache, dass einigen die Flucht gelungen ist, stellen einen einzigartigen Vorfall in der Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen dar. Dieser wurde mehrfach literarisch verarbeitet. Und es gibt eine gelungene Verfilmung der Ereignisse: »Hasenjagd: vor lauter Feigheit gab es kein Erbarmen« von Andreas Gruber. Dieser Film ist, auch wenn man den Ausgang bereits kennt, unfassbar spannend inszeniert und atmosphärisch dicht erzählt. Nur handelt es sich hier nicht um einen Hollywood-Thriller, sondern um eine authentische Geschichte…