Frauen in Haft

geschrieben von Axel Holz

1. März 2015

Neues aus der Geschichte des Berliner Frauengefängnisses Barnimstraße

 

Als Claudia von Gélieu 1994 ein erstes Buch über das Gefängnis in der Barnimstraße veröffentlichte, betrat sie Neuland. Seinerzeit musste sie noch in der Einleitung fragen: »Wen interessiert schon ein Gefängnis?« Mittlerweile ist die Geschichte des Strafvollzugs ein anerkannter Forschungsgegenstand – nicht zuletzt dank ihrer Vorarbeit. Nach zwei Jahrzehnten ist nun eine erweiterte Neuausgabe erschienen.

Das Buch ist zum einen die Geschichte eines Gebäudes, das 1863 als Schuldgefängnis gebaut und ab 1878 für fast ein Jahrhundert verschiedenen politischen Systemen als Frauengefängnis diente. In den 1960er Jahren stand das Haus der »Neugestaltung des Stadtzentrums« im Wege. Daher wurde in Berlin-Köpenick eine neue Haftanstalt errichtet, die Gefangenen 1973 verlegt und das alte Gebäude 1974 gesprengt.

Claudia von Gélieu: Barnimstraße 10. Das Berliner Frauengefängnis 1868-1974. Berlin: Metropol Verlag 2014.  318 S., Abb.; 22 Euro.

Claudia von Gélieu: Barnimstraße 10. Das Berliner Frauengefängnis 1868-1974.
Berlin: Metropol Verlag 2014.
318 S., Abb.; 22 Euro.

Das Buch ist auch eine Geschichte des Strafvollzugs. Freiheitsstrafen setzten sich erst im Rahmen der Industrialisierung durch, erlaubten sie doch den »Zugriff auf billige Arbeitskräfte und deren Gewöhnung an mechanische Arbeitsprozesse«. Gefangene Frauen wurden von Anfang an hauptsächlich in der Textilproduktion eingesetzt, in der Weimarer Republik war sogar eine Ausbildung in hauswirtschaftlichen Arbeiten vorgesehen. 1939 wurde die Gefangenarbeit von »frauengemäß« auf »kriegswichtig« umgestellt. Betriebe wie Elektrolux, Siemens-SSW, AEG richteten ihre Produktionsstätten im Gefängnis ein oder holten Häftlinge, die dann zum Teil in Außenkommandos untergebracht waren. Nach dem Krieg standen wieder die »typischen Frauenarbeiten« auf der Tagesordnung, vor allem das Wäschewaschen. So war es nur konsequent, dass bei der Standortplanung des neuen Gefängnisses von vornherein die Köpenicker Großwäscherei REWATEX ausschlaggebend war, wo bereits ein Außenkommando untergebracht war und wo dann 1974 alle 510 weiblichen Gefangenen arbeiteten.

Claudia von Gélieu wagt in ihrer Gefängnismonographie einen epochenübergreifenden Ansatz. So kann sie Fragen nachspüren wie »Warum gab es ein separates Gefängnis für Frauen?« Sie interessiert sich für den unterschiedlichen Strafvollzug bei Frauen und bei Männern, für die Aufseherinnen, aber auch für die in der Haft geborenen Kinder.

Bei der Umwandlung der Barnimstraße vom Schuld- in ein Frauengefängnis etwa spielten Kostengründe eine Rolle: Für das »schwache Geschlecht« brauchte man geringere Sicherheitsvorkehrungen – normale nur teilweise vergitterte Fenster, einfache Blechbeschläge für die Zellentüren. Ausrüstung wie Fesseln, Pistolen und Gummiknüppel hielt man bei einem Frauengefängnis für entbehrlich – erst in der NS-Zeit erfolgte eine Aufrüstung. Dem stellt die Autorin gegenüber, dass in den 1980er Jahren für das neue Berliner Frauengefängnis Plötzensee das Sicherste für die Frauen »gerade gut genug« erschien.

In den mangelhaften Quellen zur Frühzeit der Barnimstraße finden sich gelegentlich Spuren von politischen Gefangenen: Pauline Staegemann etwa, die trotz des Verbotes für Frauen, politische Vereine zu gründen, den »Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenbund« mit ins Leben gerufen hatte, musste 1879 wegen Äußerungen auf Versammlungen eine Strafe in der Barnimstraße absitzen. Auch Agnes Wabnitz verbüßte dort 1892 ihre Strafe, weil sie gegen das Politikverbot für Frauen verstoßen hatte. Ein ganzes Kapitel gilt Rosa Luxemburg, der »berühmtesten Insassin«.

In der Schilderung der frühen NS-Zeit konnte sich die Autorin auf autobiographische Publikationen stützen: Eva Lippolds »Haus der schweren Tore« (1971) sowie Eva Raedt-De Canters »Vrouwengevangenis«, 1935 in Utrecht erschienen. Dieses basiert auf den Erfahrungen von Helen Ernst, die 1933 in der Barnimstraße inhaftiert war und durch anschauliche – hier reproduzierte – Zeichnungen die Situation innerhalb des Gefängnisses dokumentierte.

Zahlreiche Frauen saßen in der Barnimstraße, bevor sie in Plötzensee hingerichtet wurden. Die Autorin fand 298 Namen, weiß aber auch, dass diese Angabe nicht vollständig ist: Frauen aus der »Roten Kapelle«, der »Baum-Gruppe« und anderen Widerstandszusammenhängen. Doch sie interessiert sich für auch die unbekannten Opfer: So wurde beispielsweise eine Frau hingerichtet, die ihrem Sohn Tipps gegeben hatte, wie er am besten vom Wehrdienst freikommen kann, eine andere, die einem flüchtigen französischen Kriegsgefangenen zu Essen gegeben hatte (Feindbegünstigung), eine andere wegen »Brandstiftung aus Eifersucht«.

Die Gefangenenbücher von März 1944 bis Januar 1945 nennen für jene Zeit typische Delikte, von Abhören feindlicher Sender und Abtreibung über Feldpostdiebstahl bis zum Umgang mit Kriegsgefangenen oder Vergehen gegen die Kriegswirtschaftsordnung. Dabei stellt die Autorin fest, dass die zahlreichen NS-Sondergesetze und ihre willkürliche Anwendung »Unterscheidungen zwischen politischen und kriminellen Häftlingen schwierig« machen und verdeutlicht dies am häufig genannten Delikt »Arbeitsvertragsbruch«: War die Verweigerung aktives Handeln oder konnten die Frauen aufgrund der allgemeinen Umstände während des Krieges nicht immer ihre Arbeitsleistungen erbringen? Konnte Sie zugeben, bewusst die Kriegsproduktion unterlaufen und ihre Pflicht verletzt zu haben, wo dies doch eine härtere Bestrafung oder gar das Todesurteil mit sich bringen konnte?

Die Autorin ging weit über die Akten, die gedruckten Quellen und die bekannten Namen hinaus: Sie suchte und fand – nicht zuletzt auch über einen Aufruf in der antifa – Kontakte zu Zeitzeuginnen. Deren Schilderungen – ausführliche Interviewauszüge, aber auch Briefe – bilden einen besonderen Reichtum des Buches.

Prostituierte machten in der Barnimstraße »fast immer die größte Gruppe der Insassinnen« aus. Lediglich in der NS-Zeit wurden diese eher in Arbeitshäuser oder KZs eingewiesen . Doch bereits 1948 stellten sie wieder die Mehrheit der Gefangenen, andere Frauen saßen wegen Nachkriegsdelikten wie Diebstahl von Kohlen, Lebensmitteln bzw. -karten oder Schwarzhandel. In der Barnimstraße mussten nun auch Naziverbrecherinnen wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« mehrjährige Zuchthausstrafen verbüßen.

Mit der Übernahme des Strafvollzugs durch die Volkspolizei 1951 sollten die zwei Jahre zuvor begonnenen Reformen ihre Ende finden: »Sicherheit statt ›Humanitätsduselei‹« – so heißt das entsprechende Kapitel. »Kommandosprache« war nun gegenüber den Häftlingen vorgeschrieben, die Bibliothek wurde von Schundliteratur und Sittenromanen gesäubert. Anfang 1951 kam es zu mehreren »Meutereien« in der Barnimstraße, eine Westzeitung berichtete von »der bisher größten Revolte innerhalb der ostzonalen Strafanstalten«.

Auch nach 1950 muss diskutiert werden, wieweit es sich um politische Gefangene handelt: Zeuginnen Jehovas, denen in ihren Schriften »Boykott-hetze« vorgeworfen wurde, Frauen, die die DDR unerlaubt verlassen wollten und – da sie Geld oder persönlichen Besitz mitnahmen – als Wirtschaftskriminelle bestraft wurden; ab 1957 war durch das Passgesetz sogar Vorbereitung und Versuch der Republikflucht strafbar.

Die Autorin hat eine spannende Wanderung durch die Geschichte des Gebäudes, die Geschichte des Strafvollzugs, der Justiz in den verschiedenen Systemen und die Geschichte Berliner Frauen vorgelegt. Sie vermag es, einzelne Aspekte zu beleuchten und zu diskutieren, die bei anderen Gefängnismonographien unter den Tisch fallen. Doch gerade -dies macht das Buch besonders kostbar.

Sie lässt auch an ihrem Forschungsprozess teilhaben und schildert etwa, wie sie per Schneeballsystem immer wieder zu neuen Personen und weiteren Informationen kam. Sie beschreibt auch, dass die Einsichtnahme in Gefängnisunterlagen aus der Barnimstraße, die nach 1990 im Frauengefängnis Plötzensee lagerten, aus Datenschutzgründen untersagt wurde.

Mit besonderer Freude aber habe ich das Vorwort zur Neuausgabe gelesen. Darin beschreibt sie nämlich, welche Wirkung ihre erste Forschung hatte, aus der das Buch von 1994, eine Ausstellung und ein Film hervorgingen. Sie traf immer mehr Personen, die etwas über die Barnimstraße wussten, sei es aus dem persönlichen Bereich oder aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Es gab neue Erkenntnisse zu Jüdinnen aus der Barnimstraße, die in den Tod deportiert worden waren, oder über ausländische Zwangsarbeiterinnen, die im Frauengefängnis ihre Kinder zur Welt gebracht hatten. Neue Zeitzeuginnen konnten ihr viel über die Barnimstraße in der DDR-Zeit berichten. Schulprojekte interessierten sich für die Haftanstalt, und nun endlich wird ein Gedenkort am ehemaligen Standort des Gefängnisses entstehen. Bücher leben, Bücher wirken – und dies ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür.