Zum Umdenken bewegen

geschrieben von Axel Holz

2. März 2015

Erinnerungen eines ehemaligen Sachsenhausen-Häftlings

 

Ende 2013 erhielt die VVN-BdA das Manuskript eines unveröffentlichten Interviews, das die Autorin Regina Scheer in Vorbereitung einer Dokumentation des DEFA-Studios für Dokumentarfilme mit Kurt Schliwski im April und Mai 1987 geführt hatte. Kurt Schliwski hatte als KPD-Mitglied in der Nazi-Zeit Widerstand geleistet, wurde von den Nazis verfolgt und über acht Jahre eingekerkert. Er erlebte auf dem Todesmarsch aus dem KZ Sachsenhausen seine Befreiung kurz vor Schwerin und eröffnete bereits im Sommer 1945 das erste VdN-Büro in Schwerin. Das Manuskript hat uns dazu angeregt, seinen Lebensbericht kommentiert und ergänzt als narrativen Beitrag zur Geschichtsforschung über das NS-Regime und die Geschichte der VVN-BdA herauszugeben. Für das Verständnis künftiger Generationen haben wir kontextuelle Erläuterungen sowie Kommentare in den Zeitzeugenbericht eingefügt.

Das Interview mit Kurt Schliwski aus dem Jahre 1987 hat einen eigenen Wert, weil es in einem besonderen historischen Moment aufgenommen wurde. Die SED-Führung hatte Mitte der 80er Jahre veranlasst, dass mit Antifaschisten, die im KZ Sachsenhausen inhaftiert waren, Video-Interviews geführt werden sollten, damit das Wissen der Vertreter dieser Generation über die Wirklichkeit in den KZ und die Nachkriegszeit nicht verloren ginge. Offensichtlich vertraute man der eigenen Geschichtsschreibung nicht und 1985/86 war durch Gorbatschows Reformpläne auch in der DDR eine neue Situation entstanden. Es schien, dass man sich der jüngeren Geschichte vorurteilsfreier nähern könnte. Die Erfahrungen des Einzelnen schienen auf einmal eine besondere authentische Quelle als Ergänzung eines bereits festgeschriebenen kollektiven Gedächtnisses zu sein. Tabus begannen sich aufzulösen, zumal die Interviewpartner persönlich durch die Parteiführung aufgefordert waren, auch das zu erzählen, was bislang unausgesprochen blieb. Hinzu kam, dass in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch viele der ehemaligen Widerstandskämpfer unzufrieden waren mit der Entwicklung in der DDR und froh, wenn sie nach ihren Ansichten und Erfahrungen befragt wurden.

Kurt Schliwski liefert in seinem Bericht von 1987 Informationen, die bisherige Forschungen über das KZ-System, die Todesmärsche, die Situation nach dem Krieg in Deutschland und die Aufklärung und NS-Aufarbeitung in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR im Detail ergänzen. Im Text wird der kameradschaftliche Umgang unter den Häftlingen im KZ Sachsenhausen deutlich, es gab aber auch Morddrohungen unter den Häftlingen aus Angst vor Verrat. Im Interview berichtet Schliwski über aktive Solidarität mit zwölf jüdischen Gefangenen im Rahmen einer gefährlichen Sammelaktion von Nahrungsmitteln. In der Beschreibung des Todesmarsches der KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen benennt er besonders brutale SS-Leute, erzählt aber auch, wie einzelne SS-Leute Übergriffe der Wehrmacht auf Häftlinge verhinderten. Der Zeitzeuge beschreibt den Aufenthalt der Häftlinge im Belower Wald, die solidarische Essensverteilung durch Häftlinge, aber auch die Bereitschaft, sich der Übergriffe einzelner vor Hunger fast wahnsinniger Kameraden durch Gewalt zu erwehren. Insgesamt bestätigt Schliwski, dass das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den Häftlingen überwiegend feindlich war, er beschreibt die Absetzbewegung der SS, auch die Ermordung von entflohenen Häftlingen durch Bauern. Noch kurz vor Schwerin starben 180 Häftlinge durch die Kugeln der SS-Leute, darunter der KPD-Reichstagsabgeordnete Karl Perlemann. Schliwski berichtet über die Arbeit in der neu gegründeten VdN-Geschäftsstelle. Dort leistete er praktische Hilfe für die befreiten Häftlinge, die seine Kameraden waren und denen er sich lebenslang besonders verbunden fühlte. Er beschlagnahmte Wohnungen für deren Unterkunft und organisierte ihren Transport in die Heimatorte. Schliwski konstatiert in seinem Bericht das reservierte Verhalten der Nachkriegs-Bevölkerung, die oft von den Nazi-Verbrechen nichts gewusst haben wollte. Er klärte zusammen mit der Kriminalpolizei den Tod von Häftlingen auf, erinnert sich an das Massengrab von Sülstorf, das er suchen ließ, und berichtet vom Umgang mit den aufgefundenen Toten der »Arcona«-Katastrophe an der Ostsee. Er erzählt, wie er versuchte, als Mitarbeiter der Schweriner VdN-Geschäftsstelle in einem Theaterstück über das Schicksal der Häftlinge in den KZ zu informieren, mit Kinoabenden in ganz Mecklenburg die Verfilmung von Friedrich Wolfs Stück »Professor Mamlock« vorzustellen und damit über die Nazi-Ideologie aufzuklären. Er, der ehemalige Häftling, wollte, ohne sich nach den traumatischen Erlebnissen eine Pause zu gönnen, Nazi-Mitläufer zum Umdenken bewegen. Die Veröffentlichung der VVN-BdA mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung kann dazu beitragen, diese Erinnerung wach zu halten.