Nackt unter Wölfen – 2015

geschrieben von Gerhard Hoffmann

20. April 2015

Eine ambivalente Erfahrung

 

Siebzig Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus und über fünfzig Jahre nach dem Erscheinen eines ersten Films »Nackt unter Wölfen« eine Neuverfilmung zu erarbeiten, verweist auf die nach wie vor beachtenswerte Relevanz des Romans von Bruno Apitz und ist insofern legitim. Nachvollziehen und –empfinden, was in einem faschistischen deutschen Konzentrationslager vor sich ging, in welchen Spannungs- und Konfliktfeldern sich Häftlinge und ihre Peiniger bewegten, wie sich Selbstbehauptung und illegal organisierter Widerstand herausbildeten, welche Ursachen menschliche Größe und menschliches Versagen haben konnten, welche Formen solidarischen Verhaltens sich unter welchen Umständen entwickelten … dürfte für ehemalige Häftlinge möglich gewesen, für Nachkommende ausgeschlossen sein.

Frank Beyer gelang mit dem DEFA-Film von 1963 auch durch die Mitwirkung von Bruno Apitz ein in sich schlüssiges Kunstwerk. Für den neuen Film wurden nicht der Roman, sondern Motive aus dem Roman zugrunde gelegt. So musste es zum Spagat zwischen historischer Wissensvermittlung und Handlungsgeschehen des Romans kommen. Der Handlungsstrang Rettung des dreijährigen jüdischen Jungen ist aufgenommen worden, um den Konflikt »Überleben des Kindes oder Überleben von Tausenden Häftlingen«, einer Lösung zuzuführen. In Andeutungen wird erkennbar, dass der individuelle Einsatz für die Rettung des Kindes wesentlich ist, dass jedoch das Netzwerk organisierten Widerstands Voraussetzung und Bedingung für die Lösung des Grundkonflikts sind. Die Unterbrechung der Handlung durch Rückblenden und dokumentarische Einblendungen mag interessantes filmisches Mittel sein, zerfasert den Film, trotz mancher Berechtigung. Während die Rückblende auf Pippigs Vorleben seine Motivation begründet, bedingungslos für die Rettung des Kindes einzutreten, setzen die historischen Dokumentaraufnahmen Kenntnisse voraus, damit sie als Elemente zur Entwicklung von Spannung verstanden werden können. Den furchtbaren Lageralltag im Kleinen Lager darzustellen, gehört in den Film. Ebenso das Ersäufen und Erschießen im Dorf, beobachtet aus einem Fenster, indem über die Schulter des Beobachtenden geschaut wird. Hier müssen die Zuschauer erkennen, dass von den Filmmachern die Sequenz als Metapher für »wir haben von alledem nichts gewusst« gesetzt wird. Die Pippig, Höfel, Krämer, Bochow, Rose auf der Häftlingsseite und auf der anderen die Schwahl, Kluttig, Zweiling, Mandrill … sind keine Charaktere, sie sind Typen an sich. Die »überbordende Gewalt« (FAZ), der Hang zu naturalistischer Darstellung, verleitet eher zum Abwenden als dazu, Emotionen zu wecken. Eindeutig scheint die immer wieder in Frage gestellte Selbstbefreiung der Häftlinge im KZ Buchenwald dargestellt. Wozu sonst, als zu ihrer Befreiung, hätten sich die Häftlinge bewaffnen und die »Alarmstufe III« ausrufen sollen? Was war das entschlossene Unterbrechen der Stromzufuhr für den Elektrozaun, das Gefangennehmen von SS-Leuten und das Hissen der weißen Flagge? Es war die militärische Aktion zur Selbstbefreiung der Häftlinge aus dem Innern des Lagers, als durch das Heranrücken der amerikanischen III. Armee die äußeren Bedingungen geschaffen wurden. Das Bedrücktsein auf dem Appellplatz am Ende des Films macht deutlich, dass das Freisein, für manchen nach zwölf Jahren Haft, nicht einfach zu verarbeiten ist. Tatsächlich organisierten die Häftlinge die Übergabe des Lagers an die Amerikaner, bereiteten u. a. das Totengedenken am 19. April 1945 und den Schwur von Buchenwald vor und am Abend dieses Tages gab die inzwischen legalisierte Bigband ein Jazzkonzert (Jorge Semprún: Überlebensübungen. 2013). Mehr als fünfzig Jahre nach dem DEFA-Film ist für fünf Millionen Euro ein Film gemacht worden, aufwändig, mit modernen Mitteln, auf dem heutigen Wissensstand, angepasst an neue Sehgewohnheiten und natürlich mit dem Blick auf hohe Einschaltquoten. Für Menschen mit historischen Kenntnissen und dem Willen, sich solche anzueignen, sind Zusammenhänge erkennbar. Ob der Film dazu anregt, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen, bleibt offen. Im besten Fall führt er vielleicht zu der Frage, was aus dem als Häftling verkleideten SS-Mann geworden sein könnte, den die GI’s als solchen nicht erkannten und den sie gutwillig laufen ließen. Im allerbesten Fall wird dieser Film dazu animieren, den Roman von Bruno Apitz zu lesen und den Film von Frank Beyer anzusehen.