Danken und Denken

geschrieben von Kurt Pätzold

27. April 2015

Aus der Ferne von sieben Jahrzehnten

 

Kein Jahr ohne Gedenktage. Doch all diese Tage, die mit historischen Ereignissen und Erinnerungen belastet sind, werden wohl übertroffen von dem 70 Jahre zurückliegenden Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Wer kann sich daran im eigentliche Sinne noch erinnern, wer hat diesen Tag erlebt und vermag sich verlässlich seines damaligen Denkens und Fühlens, seines Da- und Dabeiseins zu erinnern? Eine rasch dahinschwindende Minderheit von Europäern. Was bedeutet aber dieser demographische Wandel, die Entstehung von Gesellschaften, deren Menschen so glücklich sind (oder es jedenfalls sein sollten), im eigenen Lande und am eigenen Leibe keinen Krieg erfahren zu haben? Darüber lässt sich mit Nutzen nachdenken. Beginnend mit de Frage: Hat sich unter den Europäern nicht weithin der Gedanke festgesetzt, dass Kriege hinter ihnen liegen, auf Dauer der Geschichte ihres Kontinents angehören? Haben sie sich bei den Bildern, die ihnen das Fernsehen aus mehr oder weniger fernen Ländern in die Wohnzimmer schafft, nicht daran gewöhnt, Kriege für eine Sache der dort Lebenden und jener europäischen Soldaten anzusehen, die sich zu »Einsätzen« dahin befehlen lassen als mehr oder weniger Freiwillige? Der Bürgerkrieg in der Ukraine, letztlich ausgelöst durch die expansive Politik der NATO-Mächte unter Führung der USA, hat die Gewissheit im dauerhaft befriedeten Teil des Erdballs zu leben, jedoch weithin erschüttert.

Was also kann das Erinnern und Bedenken des Tages in dieser Situation bewirken, wenn es sich nicht in Ritualen von Staatsfrauen und –männern und in der Wiederaufführung von Dokumentar- und Spielfilmen und in der Produktion weiterer Bücher mit Texten und Bildern erschöpft, sondern in nachdenkender Verständigung. Dann sollte es auch beim ehrenden Blick auf jene nicht bleiben, denen dieser Tag zu danken ist, den Millionen von Toten, die die Schlachten gegen die faschistischen Welteroberer nicht überlebten. Wiewohl: Wer Anstand besitzt und sich, welcher Nachkriegsgeneration sie oder er immer angehört, bewusst ist, dass er zu den Gewinnern und Nutznießern jenes Sieges gehört, wird an diesem 8./9. Mai 2015 für einen Moment einhalten beim Gedanken an Russen und Briten, Franzosen und Belgier, Niederländer und Luxemburger. Norweger und Dänen, Griechen und Jugoslawen, Afrikaner vieler Völker und Stämme, Inder, Australier, Neuseeländer, Widerstandskämpfer von Völkern aller Kontinente, an Menschen vieler Sprachen und Angehörige aller Weltreligionen. Und für die Deutschen kann es beim Gedanken allein nicht bleiben. Wir haben noch einige Rechnungen zu begleichen. Dass das die Mehrheit von Generationen der Nachgeborenen tun muss, liegt nicht an jenen, die an diese Konten erinnern, sondern an denen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht beglichen und von der »Bewältigung der Vergangenheit« mehr geschwätzt, als etwas für sie getan haben.

Dazu gehört auf geistigem Feld auch die Beantwortung der Frage, wie es zu diesem Kriege kam, dessen Ende und Ausgang nur durch eine Millionenzahl von Toten erzwungen werden konnte. Dazu gehört der schonungslose Blick auf die Ursachen des Zweiten Weltkrieges, nicht um der Anklage und Schuldzuweisung willen, sondern um sich methodisch dafür zu rüsten, die heutigen Kriege besser zu »verstehen«. Dafür sind die Bundesbürger nicht gerade trainiert. Freudig haben sie im Vorjahr die beschönigende Kunde von Deutschlands Rolle auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg aufgenommen, ein fauliges Angebot aus dem Jahre 2013. Kurzum: Die Konzentration der Gedanken auf das Kriegsende sollte die auf seine Vor- und Frühgeschichte nicht ganz verdrängen. Dahin wirkt schon die neu angefachte Debatte darüber, wie dieses Kriegsende nun eigentlich von den Deutschen – beispielsweise in ihren Schulgeschichtsbüchern – genannt werden soll: Kapitulation, Zusammenbruch, Katastrophe, Ende von Deutschlands »dunkelstem Kapitel« oder gar Befreiung? Also am Ende so, wie es der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor drei Jahrzehnten in einer denkwürdigen Rede getan hatte und es im ostdeutschen Staat lange vordem üblich war?

Bei dieser Erinnerung wird in unseren Tagen gewöhnlich ganz vergessen, dass die Verwendung des Begriffs Befreiung keineswegs einschließt, dass ihm von allen, die ihn benutzen, der gleiche Sinngehalt beigelegt wird. Den Deutschen, die freiwillig oder nicht, in ihrer Masse Gefolgsleute und Instrumente des Faschismus waren, wurden an jenem Maitag definitiv die Waffen aus der Hand geschlagen. Das befreite sie von der schändlichsten Rolle, die je eine Generation von Deutschen in der europäischen und Weltgeschichte gespielt hatte. Mit dieser historischen Grundtatsache kontrastieren 1945 Erlebnisse von Millionen in dem nun besetzten Land; aber keines von ihnen hebt sie auf. Es gehört wenig Phantasie, aber doch einige historische Kenntnis dazu, sich für einen Moment vorzustellen, was das gewesen wäre, ein faschistisch beherrschtes Europa, nicht nur für die in ihm lebenden versklavten Völker, sondern auch für dessen Herrenschicht. die »reinrassigen deutschen Arier«. Auch dazu könnte jener Maitag anstoßen.