Mit der Resistenza in die Moderne
3. Juli 2015
Bis heute sind die Anstrengungen der Partisanen in der Reggio Emilia sichtbar
Jemanden wie Giacomo Notari möchte man gerne kennen. Natur- und menschenverbunden, temperamentvoll aber ausgeglichen, voller Geschichten, bescheiden und klug. Bei Auftritten in Berlin fand er problemlos großen Anklang bei 500 Zuschauern als er seine Autobiografie vorstellte, die jetzt auf Deutsch erschienen ist.
Am besten beginnt man mit dem Nachwort, der »Verabschiedung von den Lesern«. Notari vergleicht sein winziges Abruzzendorf der Gegenwart mit dem der 1930er Jahre. Was ihm missfällt, ist das allgemeine Desinteresse an dem was seine Kindheit und Jugend ausgemacht hat: die Wälder voller Esskastanien, die kleinen Felder, die Gärten. Was fehlt, ist auch der Großteil der Menschen, die in die Städte abgewandert sind, insbesondere die Scharen von Kindern. Man kann diese Welt von früher auch mit weniger Freundlichkeit beschreiben als Notari es tut. In Cesare Paveses Erzählungen herrscht zum Beispiel immer Trübsal zwischen den Geschlechtern und am Schluss ist jemand vergewaltigt oder tot, mindestens aber todunglücklich.
Die Welt der 1930er Jahre war von tiefer Armut geprägt. Jagen und Sammeln waren noch von enormer Bedeutung, jede Maispflanze wurde hingebungsvoll gepflegt. Abgesehen von vier Jahren Grundschule war der Staat nahezu völlig abwesend. »Italien« war nicht mehr als eine vage Vorstellung, für die einige ältere Männer 1915-1918 an die Isonzo-Front verschleppt worden waren. Es war ein Leben ohne fließend Wasser, Strom, Radio, Zeitungen und Uhren. Der Staat, der nichts lieferte, konnte aber auch nichts erwarten. Die bürokratische Herrschaft war nicht nur physisch noch nicht angekommen, sondern hatte sich auch noch nicht in der Psyche festgesetzt. Selbst der Faschismus änderte daran erst einmal wenig. Der Mangel am blinden Gehorchen-Wollen zeigte sich an den Fronten, an denen italienische Soldaten eingesetzt wurden. Auf allen Seiten galten die gewöhnlichen italienischen Truppen als unzuverlässig, zur Freude der Alliierten und zum Verdruss der Deutschen. Dass die italienische Regierung 1943 versuchte, die Seiten zu wechseln, als die Dinge nicht mehr gut liefen, beantworteten die Deutschen umgehend mit der Übernahme der Kontrolle über das Land und mit dem Versuch, nunmehr ein Regime ganz nach deutschem Gusto zu installieren. Die Bevölkerung lernte Begriffe wie »Durchkämmungsaktion« zu fürchten.
Der Krieg überdehnte die ohnehin schwache ökonomische Kraft der mit Subsistenzwirtschaft funktionierenden Welt der Berge. Für die Dörfler, insbesondere 17jährige Jungen wie Notari, war nichts natürlicher, als sich den plötzlichen Zwängen entziehen zu wollen. Weglaufen, sich verstecken, schwindeln – Überlebensinstinkte und nicht das große politische Konzept brachten die große Mehrzahl der Menschen in Opposition zu den Deutschen. Nur in einer solchen Lage konnte Notari seinen ersten und wichtigsten Auftrag überleben, nämlich sich freiwillig zur faschistischen Miliz zu melden und dort für Desertion zu agitieren.
Diese, aus heutiger Sicht für geradezu idiotischen Leichtsinn sprechende Aufgabe für einen völlig unvorbereiteten Jugendlichen, überstand er mit traumwandlerischem Glück – andere nicht. Die Resistenza führte ihn Ende 1944 zur PCI (Partito Comunista Italiano) und verband ihn und viele andere zum ersten Mal mit einer nationenweiten und »städtischen« Bewegung. Danach gab es kein Zurück mehr in die Isolation der Vorkriegszeit. Die Jahrzehnte nach 1945 sahen ihn als Partei-Kader, Genossenschaftsgeschäftsführer, Kommunalpolitiker und Bürgermeister. Die Umwälzungen, die er aktiv mit erzeugte, waren zwar nicht so schmerzhaft wie der Krieg, bedeuteten aber eine im Grunde größere seelische Anstrengung. Wasserleitungen, Buslinien, Wasserkraftwerke und dann gar ein Tennisplatz entstanden durch sein Engagement. Auf breiter Front organisierte die kommunistische Partei in klassisch sozialdemokratischer Manier eine neue Welt und fand Masseneinfluss, der in der Reggio Emilia noch heute von Bedeutung ist. Autonomie und Ungehorsam aber, die die Resistenza erst ermöglicht hatten, wichen den Annehmlichkeiten und gleichzeitigen Zwängen von Arbeitslosenversicherung, Steuerwesen und Zeitdruck.