Gefahr selektiver Erinnerung
6. Juli 2015
Zygmunt Bauman und Aleksandra Jasińska-Kania zu Gast in Berlin
Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus besuchte am 6. Mai der polnische Soziologe und Widerstandskämpfer Zygmunt Bauman gemeinsam mit der Soziologin Aleksandra Jasińska-Kania die Berliner VVN-BdA. Hans Coppi und eine Gruppe junger Antifaschistinnen und Antifaschisten tauschten sich mit beiden über die Notwendigkeit des Kampfes um Erinnerung und die Bewahrung der Werte des antifaschistischen Widerstandes aus. Zygmunt Bauman ist einer der anerkanntesten Soziologen und Globalisierungs-Kritiker Europas.
Zygmunt Bauman floh als 14-Jähriger bei Kriegsausbruch 1939 aus Poznań in die UdSSR. Dort trat er der in der Sowjetunion formierten 1. Polnischen Armee unter General Zygmunt Berling bei, die aus Sibirien-Deportierten und Flüchtlingen bestand. Er kämpfte u.a. am Pommernwall, wo er mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet wurde. Trotz Verwundung bei Kolberg meldete er sich freiwillig zum Sturm auf Berlin. Nach dem Krieg wurde seine 4. Jan-Kiliński-Division in den Korps der Inneren Sicherheit (KBW) überführt. Dort kämpfte er gegen nationalistische Banden, die Überfälle auf jüdische Überlebende und die neuen kommunistischen Machthaber organsierten. Aleksandra Jasińska-Kania wurde 1932 in Moskau geboren. Sie stammt aus einer nicht-ehelichen Beziehung der Widerstandskämpferin Małgorzata Fornalska und Bolesław Bierut, der 1947 Staatspräsident der Volksrepublik Polen wurde, und sein Land nach dem Vorbild der damaligen Sowjetunion gestalten wollte. Ihre Mutter war Funkerin der Volksarmee (Armia Ludowa – AL) und wurde wenige Tage vor Ausbruch des Warschauer Aufstandes im Gefängnis ermordet. Aleksandra wuchs als Waisenkind mit Kindern von Widerstandskämpferinnen im Interdom in Iwanowo bei Moskau auf.
Baumans soziologische Auseinandersetzung mit dem Holocaust begann relativ spät. Große Bedeutung hatten die Erlebnisse seiner damaligen Ehefrau Janina Bauman, die das Ghetto überlebte. Ihre Bemühungen, während des Warschauer Aufstandes in die AK aufgenommen zu werden, wurden mit dem Hinweis, dass sie Jüdin sei, abgewiesen. Als Janina 1986 in London ihre Aufzeichnungen »Winter in the Morning« [Als Mädchen im Warschauer Ghetto] veröffentlichte, strich sie aus dem Buch mehrere Passagen, die den Antisemitismus in Polen betrafen, u.a. die Schilderung ihrer Rückkehr nach Warschau, nach mehreren Jahren im Versteck. Auf der Überfahrt wurde sie mit den Worten begrüßt: »Unglaublich! Sie sind noch immer da. Diesen deutschen Pfuschern gelang es, doch nicht, alle zu vergasen!«. Diese Erinnerungen und das Bewusstsein, dass in Polen nach der Befreiung mehr als 2000 überlebende Juden ermordet wurden, führten Bauman zu seiner Studie »Dialektik der Ordnung«.: »[W]as zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen.« Bauman unterstrich, dass der Völkermord keine Unterbrechung im Lebenslauf der Rechtsstaatlichkeit darstellte, sondern dieser Völkermord im Namen des Rechts geschah.
Aleksandra Kania-Jasińska schilderte ihre Kindheitserlebnisse und die unterschiedlichen Perspektiven der Erinnerung z.B. familiär und politisch auch angesichts der Fehler und Verbrechen die während der stalinistischen Periode begangen wurden. Sie mahnte deshalb: »Immer wenn wir handeln sollten wir unsere Tätigkeit auf unsere Werte überprüfen. Wir dürfen nicht glauben, dass es nur die eine Antwort auf die Lösung aller sozialen Probleme gibt und nur eine Interpretation der Geschehnisse. Wir müssen im Gegenüber immer auch einen Menschen entdecken.«
Bauman hob hervor, dass er erst spät entdeckte, »dass die Ursprünge des Faschismus in unserer, universellen Art zu Denken liegen: dem Projekt der Moderne. Eines der gefährlichsten Elemente der Nazi-Ideologie ist die Idee vom ‚unwerten Leben‘. Dieses wurde nicht nur auf Nationen bezogen, nicht nur Juden oder Homosexuelle. Es wurde auch gegenüber ‚reinen‘ Deutschen angewendet, die auf die eine oder andere Weise als defekt erklärt wurden.«
Bauman warnte »Vergesst nicht, dass ihr mit einem Feind kämpft, der weitaus starker ist als Faschisten-Gruppen. Es sind nicht nur die Neonazis! Ihre wesentliche Stütze ist weit breiter als sie selbst. Sie nähren sich von unserer Kultur, und unsere Kultur ist in vielerlei Hinsicht sehr unangenehm falsch. Wenn ihr wirklich dieses immer wieder kehrende Phänomen mit seinen Wurzeln vernichten wollt, und die Auferstehung der extremen Rechten mit dessen Konzept des ›unwerten Leben‹ verhindern wollt, dann müsst ihr auch etwas gegen die Art wie wir leben unternehmen. Ihr dürft es nicht als isoliertes Phänomen betrachten, es hat weitreichendere Verästelungen.«