Europa. Anders. Machen.
11. Juli 2015
demokratisch – solidarisch – grenzenlos
100.000 Menschen sind in diesem Jahr schon über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet. Jeweils knapp die Hälfte von ihnen ist in Griechenland und Italien gestrandet.
Allein auf der nahe der türkischen Küste gelegenen Insel Lesbos sind im Mai 7.200 Menschen, meist aus Syrien oder Afghanistan, angekommen. 1.800 sind »offiziell« bei der Überfahrt ertrunken. Tatsächlich dürften es wesentlich mehr sein, weil nicht alle Toten erfasst oder gefunden werden.
Wer es schafft anzukommen, haust in Griechenland wie in Italien zunächst auf der Straße und ist auf sich allein gestellt. 80.000 Flüchtlinge sind im italienischen Süden in völlig überfüllten Camps registriert. Auf den griechischen Inseln meckern Touristen und stellen künftige Einnahmen aus diesem wichtigen Wirtschaftszweig infrage.
Die Diskussion der europäischen Innenminister über die dringend notwendige Quotenregelung für die Aufnahme der Menschen in anderen Ländern ist angesichts der dramatischen Verhältnisse nur zynisch zu nennen: de Maizière fordert, dass nur Flüchtlinge weiterreisen sollen, die eine »dauerhafte Bleibeperspektive« haben und die genannte Zahl von 40.000 Menschen, die pro Jahr auf ganz Europa umverteilt werden sollen, ist von der der Bereitschaft der Mitgliedstaaten sie aufzunehmen fast so weit entfernt wie von der realen Notwendigkeit.
Es liegt auf der Hand: Die europäische Politik, den Rest der Welt auch im sechsten Jahrzehnt nach dem offiziellen Ende des Kolonialismus als gigantische Plantage für europäische Nahrungs- und Genussmittel, als Rohstofflieferant, billige »verlängerte Werkbank« und Markt für Resteverwertung zu betrachten und dabei so zu tun als habe man mit den sozialen Katastrophen, die diese Politik verursacht, nichts zu tun, ist an eine objektive Grenze gekommen. Das Elend, das durch Landnahme, Versteppung, Umweltkatastrophen und Klimawandel, durch Erpressung zum »Freihandel« durch Weltbank, IWF und »Entwicklungszusammenarbeit« sowie durch Vetternwirtschaft der befreundeten Despoten geschaffen wird – ganz zu schweigen von den Kriegen, mit denen die »abendländischen Werte« im letzten Winkel der Welt durchgesetzt werden sollen und zu deren angeblichem Gedeihen auch Koalitionen mit den finstersten Mächten geschlossen werden – bleibt nicht mehr weit weg.
Die Verheerung der Welt ist für viele Menschen nicht mehr zu ertragen. Und was liegt näher, als der Verheißung von »Freedom and Democracy« und der Spur der Ernten, Rohstoffe und billig produzierten Konsumgüter dorthin zu folgen, wo sie genossen werden? Die Militarisierung der Abschottungspolitik, die mit der Zerstörung von »Schleuser-Booten« (durch Drohnen!) in eine neue Phase treten soll, ist so unmenschlich wie sie erfolglos sein wird.
Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni hatte sich nun ein breites Bündnis von Initiativen und Organisationen unter Beteiligung von Aktivisten der in den letzten Jahren entstandenen Selbstorganisationen Geflüchteter zusammengetan, um die Forderung nach einer grundsätzlich anderen Politik mit einer Demonstration und anschließendem Konzert ins Berliner Regierungsviertel zu tragen. Dazu passte, dass am gleichen Tag die Griechenland-Solidaritätswoche des Weltsozialforums startete, steht doch die deutsch dominierte europäische Politik auch in Griechenland für die Verheerung der sozialen Verhältnisse im Dienste der Kapitalverwertung. So fanden gleichzeitig in Rom, London, Brüssel und anderen Städten Europas ähnliche Demonstrationen statt.
10.000 Demonstrantinnen kamen am Nachmittag am Brandenburger Tor in Berlin an. Trotz teilweise strömenden Regens bunt, laut und kämpferisch, darunter auch Kameradinnen der VVN-BdA. Große Blöcke bildeten attac, Die Linke und streikende Berliner Schülerinnen und Schüler. Gut sichtbar waren etliche Flüchtlinge, streikende Charité-Mitarbeiter und die Griechenland-Solidarität. Dass wir nicht viel mehr geworden sind, ist der leider sträflich vernachlässigten Mobilisierung geschuldet.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Zusammenführung verschiedener sozialer Bewegungen mit dem gemeinsamen Ziel »Europa. Anders. Machen. demokratisch – solidarisch – grenzenlos« weiter getrieben wird. Antifaschistinnen und Antifaschisten haben jeden Grund, dabei zu sein. Wenn es uns nicht gelingt, Alternativen zur herrschenden Politik der sozialen Spaltung und rassistischen Ausgrenzung aufzuzeigen und perspektivisch durchzusetzen, wird die Rechtsentwicklung in ganz Europa extrem gefährlich. Und wir haben jeden Grund, auch die Frage der neuen Militarisierung der deutschen und europäischen Politik mit in dieses Bündnis hinein zu tragen.