Krieg der Erinnerungen

30. August 2015

Wie die Ukraine-Krise den Geschichtsrevisionismus in Litauen befeuert

 

Die Theorie vom »doppelten Genozid« floriert in Litauen. Nach dieser Geschichtsauffassung hätten die Sowjetunion und NS-Deutschland gleichartige Verbrechen verübt, und die litauische Nation wäre jeweils Opfer gewesen.

Während moderate Stimmen den Judenmord noch als nationale Tragödie beklagen, schlagen Nationalkonservative und Neofaschist_innen, die alljährlich Aufmärsche durchführen, radikalere Töne an. Sie feiern NS-Kollaborateure als Helden im antisowjetischen Befreiungskampf. Die jüdischen Mordopfer gelten dagegen als »Bolschewisten«, ehemalige Rotarmisten als »Besatzer« und Partisan_innen als »Verbrecher«.

Weil sich die Theorie vom »doppelten Genozid« gegen Putin (= Stalin) und Russland (= UdSSR) instrumentalisieren lässt, breitet sie sich im Zuge der Ukraine-Krise weiter aus und fasst auch im Westen Fuß. Die Erben der Anti-Hitler-Koalition werden so erneut entzweit.

Das Ausmaß zeigte sich erstmals anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz. Mit Wladimir Putin wurde ausgerechnet das Staatsoberhaupt Russlands von der zentralen Gedenkfeier in Oświęcim ausgeladen. Der polnische Außenminister Schetyna legte noch einen drauf und stellte die Befreiung von Auschwitz als Leistung ukrainischer Soldaten dar. Ein dummer Zug, den Putin, der den 27. Januar im Jüdischen Museum in Moskau beging, leicht parieren konnte.

Derweil zog der polnische Präsident Komorowski in Oświęcim eine abwegige Parallele zwischen NS-Deutschland und der UdSSR, indem er an das Massaker in Katyń erinnerte. Und die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė, die Putin in einer Linie mit Stalin und Hitler sieht, warnte mit Blick auf die russische Ukraine-Politik vor einer angeblichen Wiederholung von Auschwitz. Unlängst übrigens kürte ein Think Tank Grybauskaitė zur größten Fürsprecherin der Ukraine (noch vor Präsident Poroschenko selbst).

Der Deutungskrieg setzte sich anlässlich des 70. Jahrestags des Kriegsendes in Europa fort. Als klar wurde, dass Putin den »Tag des Sieges« am 9. Mai mit einer Parade seiner neuesten Waffensysteme in Moskau begehen würde, sagten die westlichen Staatschefs ab. Sie wollten nicht zu Statisten einer Geschichtslektion werden, die Putins Politik kaschieren würde. Doch wie ein Kritiker zu Recht anmerkte: Das Dilemma ist, dass Putins Sicht der Dinge – und sei es zufällig – die historisch richtige ist. Jede Alternativveranstaltung läuft Gefahr, den Geschichtsrevisionismus und die Diskriminierung der russischsprachigen Minderheiten in Osteuropa zu befeuern. So wie Putins Ausschluss in Oświęcim den russischen Anteil an der Befreiung von Auschwitz vergessen machte, schmälerte der Boykott der Feier in Moskau den russischen Anteil am Sieg über Nazi-Deutschland.

Die Anti-Putin-Allianz traf sich am – historisch unbedeutenden – 7. Mai im polnischen Gdańsk (Danzig), um am 8. Mai nationale Gedenkveranstaltungen durchzuführen. So auch die Präsidentin von Litauen, wo der 9. Mai längst tabu ist. Da ihr das Mahnmal auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Vilnius zuwider ist und das Kriegsende ohnehin als ambivalentes Ereignis gilt (weil es die sog. Besatzung Litauens durch die UdSSR zementierte), fiel Grybauskaitės Ortswahl auf die abgelegene Holocaust-Gedenkstätte in Ponar.

Dort gedachte die Präsidentin nicht nur der 70.000 in Ponar ermordeten Jüdinnen und Juden. Sie verneigte sich auch am Gedenkstein für die polnischen Mordopfer (darunter viele Angehörige der Armia Krajowa, die in der Region stark antikommunistisch und latent antisemitisch ausgerichtet war) und sogar am Gedenkstein für eine Gruppe litauischer Kollaborateure, die die Deutschen wegen Desertion erschossen hatten.

Doch Grybauskaitė ebnete nicht nur die Unterschiede zwischen den Gruppen ein und schwieg zur litauischen Komplizenschaft bei der Durchführung des Holocausts. Politisch schwerer wog, dass sie am 70. Jahrestag des Kriegsendes ausgerechnet den Gedenkstein unbeachtet ließ, der dem Anlass am angemessensten war: den für die 7.514 in Ponar ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen. Dass diese auch litauischer Herkunft waren, interessierte sie nicht. Für die letzten Veteran_innen und Partisan_innen war das ein weiterer Schlag ins Gesicht.

Was der 23. August, der Jahrestag des sog. Hitler-Stalin-Pakts, bringen würde, war bei Redaktionsschluss noch nicht absehbar. Die Erfahrung der letzten Jahre und die aktuelle Zuspitzung lassen jedenfalls nichts Gutes erwarten.