Neuer Militarismus

geschrieben von Ulrich Schneider

1. September 2015

Japan 70 Jahre nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg

 

Mitte August 2015 wurde in Japan an den 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Kapitulation erinnert, mit der der Pazifikkrieg am 2. September 1945 endgültig endete. Zehn Tage zuvor gedachte das Land des ersten Atombombenabwurfs von Hiroshima und zwei Tage später dessen in Nagasaki. Beide Ereignisse machten die Widersprüchlichkeit der Erinnerung und des Umgang mit der Vergangenheit des japanischen Militarismus deutlich.

Die Niederwerfung des japanischen Militarismus 1945 durch die gemeinsame Kraft der Anti-Hitler-Koalition, wie sie in Jalta und noch einmal in Potsdam verabredet wurde, war eine zwingende Notwendigkeit. War doch die japanische Okkupationspolitik in Korea, in China und in den ehemaligen französischen Kolonien Indochinas von Kriegsverbrechen und einer unmenschlichen Ausplünderung der Zivilbevölkerung sowie der Ressourcen der Länder geprägt. Das Urteil des Tokioter Prozesses von 1946/48 gegen 28 Hauptkriegsverbrecher zeigt deutlich, in welchem Maße die hier Angeklagten stellvertretend für das militaristische Herrschaftssystem »als Führer, Organisatoren, Anstifter oder Komplizen an der Planung oder Ausführung eines gemeinsamen Plans oder einer Verschwörung zum Führen von Angriffskriegen« und Gräueltaten gegen Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung beteiligt waren. Genannt sei an dieser Stelle exemplarisch das Massaker von Nanking (China), bei dem japanische Truppen mindestens 200 000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordeten und rund 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigten.

Die rechte Regierung unter Ministerpräsident Shinzo Abe (LDP) kam in der offiziellen Feierstunde vor 7000 geladenen Gästen nicht um eine Erklärung umhin: »Japan hat wiederholt Gefühle der tiefen Reue und eine von Herzen kommende Entschuldigung für seine Taten während des Krieges zum Ausdruck gebracht.« Diese Position früherer Kabinette »wird unerschütterlich in die Zukunft hinein bleiben.« Bezogen auf China sprach Abe von »unermesslichem Leid«, das durch Japans Militär verursacht worden sei. Allen asiatischen Nachbarn und früheren Kriegsgegnern übermittelte er seine »tiefe Trauer und ewiges Mitgefühl«. Eine Verurteilung dieser Verbrechen war von ihm nicht zu hören.

Abe, der sich in der Tradition seines Großvaters Nobusuke Kishi sieht, der wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden war, hat diese Haltung schon einmal demonstriert, als er im Dezember 2013 den Yasukuni-Schrein aufsuchte, an dem traditionell der 2,5 Millionen gefallenen japanischen Soldaten gedacht wird, darunter aber auch zahlreicher Kriegsverbrecher. Im vergangenen Jahr bezeichnete er in einer Grußbotschaft für die buddhistische Totenfeier für hingerichtete Kriegsverbrecher diese als »Märtyrer«. In diesem Jahr blieb er zwar persönlich dem Schrein fern, schickte aber eine Opfergabe.

Vor diesem Hintergrund kommt Prof. Eiichi Kido (Universität Osaka) zu der Einschätzung, dass die geschichtsrevisionistische Tendenz, die kolonialistisch-imperialistische Vergangenheit Japans zu verharmlosen oder sogar zu verherrlichen, zunehme. Dabei gehe es um eine Umschreibung der Geschichte der Kriegsverbrechen selber und insbesondere die Ablehnung eines ehrlichen Umgangs mit der Geschichte der »Trostfrauen«, koreanische Frauen, die als Zwangsprostituierte für die japanischen Soldaten dienstbar sein mussten. Bücher zu diesem Thema oder selbst wissenschaftliche Veranstaltungen an den Universitäten werden von rechten Studierenden und Medien angegriffen. Kido berichtet: »Bei rassistischen Demonstrationen werden auch große Hakenkreuzfahnen hochgehalten. Bei einer Kundgebung zur »Verwirklichung der Großostasiatischen Wohlstandssphäre« am 20. April 2014, dem 125. »Führergeburtstag«, wurde mit Hakenkreuzen nicht nur der Hegemonieanspruch Japans in Ost- und Südostasien unterstrichen, sondern auch die Rehabilitation von NS-Deutschland propagiert.«

Selbst der UN-Menschenrechtsausschuss formulierte im Sommer 2014 gegenüber Japan seine »Besorgnis über weitverbreitete rassistische Diskurse« und forderte eine angemessene Untersuchung zum Thema »Trostfrauen«.

Der politische Hintergrund dieses Geschichtsstreits ist offenkundig: Japan will »aus dem Schatten der Geschichte treten«, um eine neue politische und militärische Rolle in Südostasien zu spielen. 2014 legte Abe eine Entschließung vor, die den Artikel 9 der japanischen Verfassung, der einen Verzicht auf Krieg und militärische Gewalt beinhaltet, außer Kraft setzen würde. Offiziell geht es nur um eine »Neuinterpretation« der »kollektiven Selbstverteidigung«. Viele Kritiker befürchten jedoch eine Rückkehr zum japanischen Militarismus. Dies wurde auch in der Parlamentsdebatte deutlich, bei der diese Vorlage mehrheitlich angenommen wurde. Die LDP-Regierung buhlte dabei mit nationalistischen Parolen um Unterstützung selbst bei den Opfern ihrer Sozialpolitik.

Aber es gibt deutliche Zeichen von Widerstand. Anlässlich der Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki forderten mehrere 10.000 Japaner, jeglicher militärischen Expansionspolitik aktiv entgegenzutreten.