Am Anfang steht die Angst

geschrieben von Tobias P. Jachmann

3. November 2015

Gedanken zur Situation in unserer Gesellschaft

 

Bekanntlich soll das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein der Menschen bestimmen. Wenn das stimmt, was läuft dann falsch in einer Gesellschaft, die sich in weiten Teilen vor Überfremdung fürchtet? Warum erhöhen sich Menschen heroisch selbst als Patrioten? Woher rührt das »Unbehagen in der Kultur«?

Der eine oder andere Sozialromantiker hängt immer noch an der Vision eines Sozialstaates, zeigt doch dagegen die Wirklichkeit, dass Länder wie die Bundesrepublik sich nicht mehr durch soziale Gerechtigkeit und Sicherheit auszeichnen. Das Individuum sieht sich heute nicht nur in einer Situation, in der es ausgebeutet wird, sondern – was psychisch die gewichtigere Rolle spielen dürfte – es befindet sich ständig in der ausweglosen Situation der Selbstausbeutung.

Es gibt keinen Alltagsbereich, in dem nicht schon einmal die Hand eines Unternehmensberaters versuchte, neoliberale Zauberformeln zur Profitmaximierung zur Anwendung zu bringen. Die Nebel der Prekarisierung legen sich auf alles und vergiften die blühendsten Landschaften. Das Individuum aber kann nichts für seine Arbeitslosigkeit, und wird doch für die perversen Prinzipien des Marktes bestraft und zur Verantwortung gezogen. Ohnmacht scheint die einzige Antwort auf Entfremdung zu sein. Oder in den Worten Christa Wolfs: »Da sie [Christa T.] an der Welt nicht zweifeln konnte, blieb ihr nur der Zweifel an sich«.

Gesellschaft bedeutet miteinander leben und gemeinsam auszuhandeln wie dieses Miteinanderleben aussehen soll. Das klingt gerade hier utopisch, wo dem Menschen der Mitmensch nichts bedeutet. Wo das Individuum letztlich nicht mehr im Mittelpunkt der Gesellschaft steht, es unfreiwillig entleert wird. Das Subjekt ist vom Thron gestoßen und ringt nach einem Ausweg aus seiner Situation, in der die Entmachtung unaufhaltsam fortschreitet. Abwehrmechanismen versuchen eine Minus- in eine Plussituation zu überführen, obwohl sie sich gleicher Mechanismen bedienen, die ihren eigenen Zustand bedingen.

Die Angst, die Aussicht darauf, dass das Selbstgefühl des Individuums erniedrigt wird, ist der Motor, der die Kompensation in Gang bringt und am Laufen hält. Es geht darum, die Unsicherheiten im Leben zu bewältigen und dazu kann sich das Individuum vielerlei Fiktionen bedienen, um schließlich der Realität zu entfliehen und nicht in Erniedrigung versinken. Das betrifft gleichfalls den Manager, der sich hemmungslos der Rationalisierung hingibt, aber auch die grölende Masse derer, die sich gegen die Islamisierung des Abendlandes und Überfremdung aussprechen. Es findet ein Kampf gegen Herabsetzung statt. Wut als Zeichen von Angst und Hilflosigkeit.

Deshalb kann gerade Alfred Adler, der erste Dissident aus dem Freud-Kreis, Hilfreiches zur Debatte beitragen: Genau nämlich die Erkenntnis, dass die vielfältigen Ausformungen von Druck in der Gesellschaft oder auch in der Familie auf das Individuum einwirken und viele seelische Gefahren zur Folge haben können. Folgt man ihm, vermitteln gerade die Strukturen der Gesellschaft als auch der herrschende Zeitgeist bereits dem Kind die Annahme, dass Minderwertigkeit, d.h. das Schwachsein, durch ein individuelles Höherstreben ausgeglichen werden kann. Es geht um das Obensein, das Herrschen. Diese Überkompensation der Minussituation mittels Streben nach Anerkennung, Geltung, Überlegenheit und Macht, kann zu Unterwerfung, Autoritarismus und Depression führen. Gerade die eingeübten Mechanismen stehen aber infrage, wenn wir uns nicht mehr sicher fühlen, wenn Veränderung ansteht und neue Unterschiede uns irritieren.

Der Mensch ist von Natur ein soziales Wesen, der auch ein Bewusstsein dafür besitzt: Adler bezeichnet es als das sog. Gemeinschaftsgefühl. Passend formulierte er: »Das Streben nach Herrschaft ist ein verhängnisvolles Blendwerk und vergiftet das Zusammenleben der Menschen! Wer die Gemeinschaft will, muss dem Streben nach Macht entsagen«.

Der Mensch, um sich als Mensch zu fühlen, braucht ein größeres Ziel im Leben, eine Utopie. Dafür eignen sich höhere Ideale durchaus. Das Gemeinschaftsstreben des einen, ist die Suche nach Gott des anderen. Das ökonomisch Absolute hat jedenfalls kein Zeug dazu, es begründet keine objektive Wirklichkeit. Es konditioniert den Menschen – damals wie heute. Der aber braucht keine unnützen Überlegenheitsziele, sondern Freiheit und Sinnorientierung zum Leben. Und leben heißt Konflikte lösen, sich selbst in inneren Konflikten zu entgegnen und nicht in Angst zu verharren.