Geschmähter wird Vorbild

geschrieben von Renate Hennecke

6. November 2015

Bundesverdienstkreuz für den Aktivisten Reinhard Strecker

 

»Mir kommt heute die Aufgabe zu, Ihnen den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszuhändigen… Sie haben Ihr Leben dem Ziel verschrieben und sich – man kann schon sagen, obsessiv – dafür eingesetzt, dass der geistige und gesellschaftliche Wiederaufbau Deutschlands nicht in die falsche Richtung geht.« So der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner in seiner Laudatio für Reinhard Strecker, der am 24. August 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde.

Reinhard Strecker mit Tim Renner, Kulturstaatssekretär von Berlin.

Reinhard Strecker mit Tim Renner, Kulturstaatssekretär von Berlin.

Die falsche Richtung? »In den 50er Jahren gab es quer durch Bevölkerung und Politik den Wunsch nach einem Schlussstrich, nach einer allgemeinen Amnestie, nach einem Weiterleben ohne Vergangenheit.« Vormalige Nazis kehrten zuhauf in den öffentlichen Dienst zurück. »Unter Richtern und Staatsanwälten betrug die Quote der personellen Kontinuität 90 %. Darunter waren auch viele, die während der NS-Zeit an den über 27.000 Todesurteilen des Volksgerichtshofes und anderer Straf- und Militärgerichte mitgewirkt hatten.«

Strecker habe, hob Renner hervor, gegen diese Schlussstrich-Stimmung angekämpft. »Sie haben mit der inzwischen legendären Ausstellung ‚Ungesühnte Nazi-Justiz‘, mit Petitionen an den Deutschen Bundestag, mit Strafanzeigen gegen wieder beamtete frühere NS-Juristen und mit Ihren Veröffentlichungen, z.B. dem Buch über Dr. Hans Globke, einen wesentlichen Ausschlag gegeben, dass das deutsche Volk seine Schuld nicht vergaß und dass zumindest einige Täter aus öffentlichen Ämtern entfernt wurden.«

Vor allem aber habe der damalige Student an der FU Berlin, so Renner weiter, mit wesentlichen Impulsen den Prozess der Aufarbeitung in der jungen Bundesrepublik angestoßen. Im Gegensatz zu offiziellen Verlautbarungen, in denen die »Aufarbeitung der Vergangenheit« in der BRD als vorbildhaft gefeiert wird, zeichnete Renner ein realistisches Bild der Widerstände, mit denen sich Menschen wie Strecker konfrontiert sahen: »Von offizieller Seite und weiten Teilen der Bevölkerung wurden Sie für Ihr Engagement schikaniert, diffamiert, diskreditiert, als ‚Nestbeschmutzer‘, als ‚Gefahr für die Sicherheit Berlins‘, als ‚Agitator zugunsten der sowjetzonalen Seite‘. Das persönliche Opfer, das Sie und Ihre Familie für die Wahrheit erbracht haben, war groß.«

Zur seelischen Belastung durch Diffamierung und Bespitzelung seien die Zerstörung beruflicher Chancen, die Bedrohung der Familie bis hin zu Entführungsversuchen gegen die Kinder sowie schwere finanzielle Belastungen für Recherche und die Beschaffung der ausgestellten Aktenkopien gekommen. Renner bedauerte Schikanen, an denen »in vorderster Reihe auch der Berliner Senat und Ihre und meine eigene Partei, die SPD, beteiligt« waren: »Justizsenator Kielinger und Senator für Volksbildung Tiburtius erwirkten bei den Berliner Hochschulen und Bezirken, dass keine Ausstellungsräume für ‚Ungesühnte Nazi-Justiz‘ zur Verfügung gestellt wurden und betrieben eine gezielte Rufmord-Kampagne, indem sie den Verdacht äußerten, Sie seien ‚zumindest vom Osten gelenkt und inspiriert‘. Der SPD-Parteivorstand distanzierte sich von der Ausstellung und vom SDS und versuchte die Ausstellung zu behindern, ein vom Kreis Steglitz beantragter Parteiausschluss aus der SPD scheiterte.«

Dabei hätte die SPD, dies sei hinzugefügt, nicht nur wegen der eigenen Opfer Grund gehabt, sich positiv zu der Ausstellung zu verhalten. Um zu verhindern, dass am 8. Mai 1960, 15 Jahre nach Kriegsende, sämtliche NS-Verbrechen außer Mord verjähren würden (und was galt denn damals überhaupt als Mord?), legte die SPD Anfang 1960 dem Bundestag den Entwurf für ein »Berechnungsgesetz« vor. Danach sollte der Beginn der 15-jährigen Verjährungsfrist für Delikte wie Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge und Ähnliches auf den 16. September 1949 verschoben werden, da eine geordnete Strafverfolgung vor Gründung der BRD nicht möglich war. Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« widerlegte das Argument der Verjährungsbefürworter, es sei nicht mehr mit einer nennenswerten Anzahl von NS-Prozessen zu rechnen, denn das meiste sei bereits aufgearbeitet und weiteres Aktenmaterial nicht zugänglich. Der Gesetzentwurf wurde abgelehnt, die Verschiebung erst 1965 beschlossen, als die Verjährung von Mord drohte.

Renner: »Mit Ihrem Engagement haben Sie Brücken des Vertrauens zu europäischen Nachbarn und dem Staat Israel geschaffen. … Sie haben im deutschen Wiederaufbau Verantwortung und große persönliche Opfer auf sich genommen, um dazu beizutragen, dass aus diesem Land ein demokratischer Rechtsstaat wurde. Sie haben als Privatmann eine Aufgabe übernommen, die eigentlich eine öffentliche war, und dabei viel erreicht. Sie sind damit ein Vorbild für Zivilcourage und staatsbürgerliches Engagement.«