Die Macht und der Mob

geschrieben von Regina Girod

8. November 2015

Ursachen und Gefahren der Flüchtlingskrise in Europa

 

Mauern helfen nicht mehr. Auch keine Patrouillenboote oder gar Minenfelder. Die Menschen, die auf ihrer Flucht vor Kriegen, Verfolgung, Umweltzerstörung und den alltäglichen Verwüstungen der herrschenden Wirtschaftsordnung nun bis ins Herz Europas dringen, haben nichts zu verlieren und sind nicht aufzuhalten. All die Verträge von Schengen, Dublin usw., mit denen sich Europa jahrzehntelang eingemauert und abgeschottet hatte, nützen nichts. Die ganze Frontex-Strategie macht offensichtlich nicht mehr viel Sinn. Offensichtlich?

Mit ihrem: »Wir schaffen das!«, gehört Bundeskanzlerin Merkel zu den wenigen Politikern, die verstanden haben, dass ein »weiter so« nicht möglich ist. Vielleicht, weil sie als Physikerin gelernt hat, Prozesse nüchtern zu analysieren. Das hat sie vielen ihrer Kollegen voraus. Verantwortliche Politik fängt mit der Akzeptanz objektiver Gegebenheiten an. Dass Angela Merkel jetzt, wo sie von allen Seiten angegriffen wird, standhaft gegenhält, nötigt nicht nur mir Respekt ab. Sie besteht auf einer Position, die sie nur mit einer Minderheit in Deutschland teilt. Das kann Bedeutung haben für kommende Kämpfe.

Möglicherweise werden »wir« (wer auch immer darin ein- oder ausgeschlossen ist), es tatsächlich schaffen, eine Million oder gar noch mehr Flüchtlinge von den 50 Millionen auf der ganzen Welt aufzunehmen. Doch unter welchen Prämissen soll das geschehen? Das gerade durchgepeitschte Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz lässt keinen Zweifel daran: Willkommen sind hier nach wie vor nur »nützliche« Immigranten, also Menschen, die für den Kapitalverwertungsprozess in Deutschland Brauchbares einzubringen haben. Alle anderen sollen weiter draußen bleiben, oder zumindest schneller abgeschoben werden. Also ein genaues »Weiter so« der bisherigen Politik.

Anderes war auch nicht zu erwarten. Denn die Kriege und der neoliberale Umbau der ökonomisch stärksten Länder, die ja wesentlicher Antrieb für das Wachstum der Flüchtlingsströme sind, dürfen nicht in Frage gestellt werden. Als Ausdruck des nackten Interesses der ökonomisch Herrschenden in dieser Welt sind sie sakrosankt. Auf diese Weise bekommt die Losung: »Fluchtursachen bekämpfen!« in der heutigen Zeit etwas geradezu Revolutionäres.

Dabei ist die Lage alles andere als revolutionär. Auf deutschen Straßen marschiert inzwischen der Mob. Er brüllt rassistische Parolen und schleppt Galgen mit sich herum. Er greift Asylbewerber und ihre Helfer an und wenn es sein muss, auch die Polizei. Tag für Tag wächst die Welle der Gewalt. Flüchtlingsunterkünfte in Brand zu setzen, ist unterdessen fast normal geworden – nicht nur im Osten, sondern überall. Das rechte Spektrum wittert Morgenluft. Wo immer es Proteste gibt, AfD und NPD, Pegida, Hogesa, und auch die Kameradschaften, machen mit und sind dabei. In der Flüchtlingsfrage finden sie Gehör bei den normalen Leuten. Tatsächlich habe ich noch nie so viel Hysterisches, Absurdes und Gemeines gehört, wie aus dem Munde »besorgter« Bürger in den letzten Wochen. Die Gesellschaft verroht zusehends. Ist diese Entwicklung überhaupt noch aufzuhalten?

Die Aussicht dafür ist nicht gut. Die Frechheit, mit der z. B. das »Pack« in Sachsen die Beschimpfung Siegmar Gabriels parierte, macht eines deutlich: Diese Leute fühlen sich im Recht. Und das nicht unbegründet. Getreu dem neoliberalen Menschenbild haben sie gelernt, dass alle, die auf Unterstützung angewiesen sind, durch den Staat entwürdigt werden. Wenn sie noch nicht mal Deutsche sind, dann sowieso. Den verheerendsten Effekt hat dabei aus meiner Sicht die Abschiebpraxis erzeugt. Sie zementierte das Bild von » kriminellen Ausländern« als Menschen zweiter Klasse, die nicht die gleichen Rechte wie alle haben. Ein behördlicher Freifahrtschein für Unmenschlichkeit, der jetzt eingelöst wird.

Solch eine Fehlentwicklung ist nicht von heute auf morgen gutzumachen. Doch der Staat hat es in der Hand, wenigstens die Welle der Gewalt einzudämmen. Dafür muss allerdings sofort die vielerorts anzutreffende Kumpanei von Behörden und »besorgten« Bürgern aufgekündigt werden, denn Hetze und Gewalt sind keine Kavaliersdelikte. Und rechter Terror ist Terror und als solcher auszumachen und zu bekämpfen. Wenn das geschieht, schaffen wir es (vielleicht).