Vom Wert des Lebens
2. Mai 2016
Ausstellung zum Umgang mit Kranken und Behinderten im NS-Staat
»Des Lebens wert« wurden im in den Jahren von 1933 bis 1945 sich zunehmend kriegerisch ausdehnenden »Dritten Reich« Millionen von Menschen nicht befunden und deshalb gewaltsam zu Tode gebracht. Der Holocaust, die Massenmorde an Juden, Sinti und Roma, und all den anderen, die von den NS-Herrschern und deren willigen Vollstreckern als »Untermenschen« eingeordnet worden waren, die Extermination politischer Gegnerinnen und Gegner, das Wüten der deutschen Eroberer in den besetzten Ländern, die »Vernichtung durch Arbeit« von Kriegsgefangenen und zur Zwangsarbeit Gezwungenen aus aller Welt in deutschen Betrieben und den diesen beigestellten Lagern: Angesichts der Dimensionen solcher Verbrechen, sind über 200.000 Ermordete eine bescheidene Zahl.
»erfasst. verfolgt. vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus« heißt die Ausstellung, die seit Anfang April (und noch bis zum 26. Juni 2016) im »NS-Dokumentationszentrum« in München zu sehen ist. Neben den »systematisch Ermordeten«, wie es im Begleitmaterial zur Ausstellung heißt, den 200.000 Todesopfern, steht eine zweite Zahl im Raum: »Bis zu 400.000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert.«
Bei ersteren ging es um »lebensunwertes Leben«, dem ein Ende bereitet wurde. Der jeweilige »Wert« wurde festgemacht an Kriterien wie »Heilbarkeit« oder »Arbeitsfähigkeit«. Und dann wurde fast immer gnadenlos entschieden, wer überleben durfte. Auch einen Begriff »Bildungsfähigkeit« gab es.
Diejenigen, die in Krankenhäusern, Heilanstalten, Heimen, in Ämtern und anderen Instanzen Entscheidungsbefugnis letztlich über Leben oder Tod hatten – Ärzte, Pflegepersonal, staatliche oder kommunale »Funktionsträger« – walteten, wie die Ausstellung zeigt, von ganz wenigen Einzelnen ausgenommen, fleißig ihres Selektionsamtes. Und sie wussten ihre Maßnahmen sowohl »volkswirtschaftlich« (und »volksnah«: »unnütze Esser«) als auch »ethisch« (»Gnadentod«, »Euthanasie«…) zu begründen.
Bei der Zwangssterilisierung wiederum ging es um Erhalt und Sicherung der »Volksgemeinschaft«, konkret um die Verhinderung »erbkranken Nachwuchses«. Spätestens hier könnten beim Gang durch die fünf Abteilungen der schon sehr text- und informationsintensiven Ausstellung (69 Tafeln, zwei »Medienstationen«, ergänzt durch einen auf München bezogenen lokalgeschichtlichen Anhang) aktuelle Alarmlämpchen aufblinken. Die eine oder andere »Biologisierung« oder genetische »Absicherung« heutiger Lebens- und Beziehungsplanungen betreffend…
Besonders lehrreich sind bei dieser Ausstellung (auch sie ein Versuch der eigentlich zu späten »Aufarbeitung« einer alles andere als glorreichen Geschichte – in diesem Falle jener der »Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde«, DGPPN, und ihrer Vorgängervereine), die ausführlichen Hinweise auf die Zeit nach 1945 und hier nicht zuletzt auf das Fortwirken einer Reihe der für die Mordtaten Verantwortlichen. Meist wieder in höchsten Ämtern und Ehren. In Kliniken, Anstalten, Heimen, in Verbänden und in der Politik…
Die DGPPN hat die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors erstellt und sie 2014 unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten in Berlin auf den Weg gebracht. Seither wurde sie im In- und Ausland gezeigt, nach München stehen Dresden, Hamburg, Bremen, Jena und Erfurt auf dem Plan, aber auch London, Kapstadt und Sao Paulo.
Zurück zur »Aufarbeitung« der Jahre nach 1945. »Bis heute«, heißt es in Ausstellung und Katalog, »fallen Zwangssterilisierte und Angehörige von ‚Euthanasie‘-Opfern nicht unter das in den 1950er-Jahren verabschiedete und mehrfach ergänzte Bundesentschädigungsgesetz. Nach dessen Definition sind NS-Verfolgte Menschen, die wegen ihrer politischen Meinung, ihrer ‚Rasse‘, ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion verfolgt wurden. Menschen, die zwangssterilisiert worden waren oder in Mordanstalten überlebt hatten, und Angehörige von ‚Euthanasie‘-Opfern gehören nicht dazu.« Unter bestimmten Bedingungen gebe es allerdings seit den 1980er-Jahren »Einmalzahlungen« oder »Beihilfen«.
Und unter der Überschrift »Deutscher Bundestag« wird präzisiert: »Bei der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung im April 1961 nahmen Sachverständige zur Entschädigung von Zwangssterilisierten Stellung. Drei von ihnen waren an den NS-Medizinverbrechen beteiligt. (…) Sie alle lehnten Zahlungen mit unterschiedlichen Begründungen entschieden ab.«
Prof. Winfried Nerdinger, Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums, kann hier nur beigepflichtet werden: »Im Aufzeigen aktueller Bezüge, dem Fort- und Weiterleben nationalsozialistischer Ideen, wird deutlich: Das geht mich heute noch etwas an. Dieses Bewusstsein zu schaffen ist Hauptziel unserer Arbeit.«