Als Vernichtungskrieg geplant
7. September 2016
Kurt Pätzold über den faschistischen Überfall auf die Sowjetunion
In beängstigender Stille hat das offizielle Berlin den 75. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion begangen. Einzig eine belanglose Erklärung und wenig politische Repräsentanz waren wahrnehmbar, selbst bei den Spielen der Fußball-EM sah man mehr Politiker. Umso wichtiger ist es, dass verschiedene Buchautoren (Hannes Hofbauer: »Feindbild Russland« oder Stefan Bollinger: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«) aus Anlass dieses Jahrestages die Frage des deutsch-russischen Verhältnisses thematisierten. Einen wichtigen Beitrag leistete auch Kurt Pätzold mit einer ausführlich eingeleiteten Dokumentensammlung zum 22. Juni 1941.
In seiner Zusammenfassung schreibt er: »Am 22. Juni 1941 begann, wie die Nazi-Propaganda erklärte, der ›Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus‹. Tatsächlich war es ein imperialistischer Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Es ging um Land, um Öl und andere Bodenschätze, um Arbeitssklaven und um die Ausrottung des ›jüdischen Bolschewismus‹. Über die Ziele, den Verlauf des Krieges und seinen Ausgang sind ganze Bibliotheken veröffentlicht worden. Allerdings ist keine Publikation darunter, die speziell die Stimmung im Land der Täter untersucht hat. Was dachten die Deutschen über diesen Feldzug? … Wie sollte die ›Heimatfront‹ stabilisiert werden?«
Das Buch ist zweigeteilt. Auf gut 100 Seiten schildert der Autor die Zeit von Juni 1941 bis Januar 1942 aus unterschiedlichen Perspektiven. Ergänzt wird diese Darstellung durch 63 Dokumente, die die politische und militärische Kriegsplanung, die öffentliche Reaktion auf den Kriegsbeginn und die Wahrnehmung dieses Feldzuges in der vom SD überwachten Öffentlichkeit nachzeichnen.
In der ihm eigenen anschaulichen und gleichermaßen faktengestützten Art schildert Pätzold in den einzelnen Kapiteln die politische »Gerüchteküche« vor dem Überfall, die erschrockenen Reaktionen in der Öffentlichkeit unmittelbar nach dem Überfall, aber auch die Wirkung der Propaganda in den ersten Tagen, die in der Bevölkerung die Illusion eines weiteren »Blitzkrieges« nährte.
In einem Perspektivwechsel beschreibt er auch die öffentliche Wahrnehmung in der Sowjetunion und Großbritannien, wo man den Kriegsbeginn »mit Erleichterung« aufnahm, da damit der militärische Druck auf das Insel-Reich etwas minimiert wurde. Im Verlauf der ersten Monate des Krieges wurde deutlich, dass die ursprüngliche Hochstimmung immer mehr einer abwartenden Haltung und gewissen Enttäuschung gewichen sei, da sich »die Hoffnungen auf den Zusammenbruch des Bolschewismus nicht erfüllt haben.« Im Dezember 1941, bei der Schlacht um Moskau, wurde endgültig deutlich, dass die militärische Strategie gescheitert war. Die Ablösung von hohen Wehrmachtsoffizieren, die sich nicht verheimlichen ließ, führte nicht zur Verbesserung der politischen Stimmung, sodass noch einmal der Propagandaapparat mit dem »Neujahrsaufruf Hitlers an Partei und Volk« hochlaufen musste, in dem für das Jahr 1942 die militärische Entscheidung angekündigt wurde. Wenn man bedenkt, dass im Winter 1942 die Schlacht um Stalingrad begann, hatte Hitler recht – nur war es der Beginn der endgültigen Niederlage.
Von besonderer Bedeutung ist die ergänzende Dokumentenauswahl. Es beginnt mit der ersten Weisung Hitlers zur Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion vom Juli 1940 (!), zahlreiche bekannte und weniger bekannte Quellen zur Kriegsplanung und propagandistischen Vorbereitung folgen. Sehr interessant sind Auszüge aus verschiedenen Tagebüchern, Briefen und Memoiren, die die Stimmung in der deutschen Bevölkerung Ende Juni 1941 nachzeichnen lassen. Der katholische Feldbischof sah die faschistische Armee – in der Nachfolge der deutschen Ordensritter – als »Retter und Vorkämpfer Europas«.
Wie diese »Rettung« aussehen sollte, formulierte der Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch im Oktober 1941: Der Soldat an der Ostfront sei »Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden.«
Pätzold liefert auch eine Erklärung dafür, warum der Widerspruch zwischen der militärischen Wirklichkeit und ihrer propagandistischen Darstellung nicht handlungsmächtig wurde. Hier trafen Hitlers »Versprechungen und Prophezeiungen mit den Wünschen der Mehrheit der Deutschen zusammen. Und das machte sie wehrlos und unfähig, zu dem Gehörten oder Gelesenen eine kritische Distanz herzustellen. Sie wollten den Krieg nicht verlieren und glaubten Anfang 1942 noch, wenn ihnen der Gedanke an solches Ende überhaupt schon kam, dass sich das vermeiden lasse.« Und diese Grundhaltung prägte – wie wir wissen – die deutsche Mehrheitsgesellschaft bis zum Ende 1945. Pätzolds Dokumentation hilft Nachgeborenen, dieses scheinbar absurde Festhalten an der faschistischen Kriegspolitik bis »fünf Minuten nach zwölf« besser zu verstehen.
Kurt Pätzold, Der Überfall, Der 22. Juni 1941: Ursachen, Pläne und Folgen, 256 S., edition ost, Berlin 2016, 14,99 €