Ein Haus der Bücher

geschrieben von Janka Kluge

7. September 2016

Politik- und Geistesgeschichte im Spiegel einer Biografie

Der amerikanische Autor Sasha Abramsky hat eine Biographie über seinen Großvater, Chimen Abramsky, geschrieben. Um sein Leben nachzuzeichnen, hat er mit Familienmitgliedern, Historikern und Politikwissenschaftlern in vielen Ländern gesprochen. Zum hundertsten Geburtstag Chimen Abramskys wurden die Erinnerungen veröffentlicht.
Chimen Abramsky kam 1916 in Minsk zur Welt. Sein Vater war der Rabbiner Yehezkel Abramsky. Im Laufe der Jahre stellte der mehrfach Ausreiseanträge, um mit seiner Familie in Jerusalem leben zu können. Er wurde wegen antisowjetischer Einstellungen verurteilt und in ein Zwangsarbeiterlager nach Sibirien gebracht. Durch die Bemühung von Schriftstellern und Politikern aus westlichen Ländern, unter anderem des deutschen Kanzlers Heinrich Brüning, wurde er gegen fünf in Deutschland inhaftierte Kommunisten ausgetauscht. Als er 1931 freikam und mit seiner Familie ausreisen durfte, wurde London ihre neue Heimat. Zwei Söhne mussten allerdings in der Sowjetunion bleiben. Yehezkel Abramsky wurde Rabbiner in London.
Chimen Abramsky zog 1936 nach Jerusalem, um an der Hebräischen Universität Geschichte zu studieren. Als er 1939 seine Eltern in London besuchte, konnte er durch den Überfall Hitlers auf Polen nicht mehr zurück nach Jerusalem. So nahm er eine Stelle bei der jüdischen Buchhandlung »Shapiro, Valentine & Co.« an. 1940 heiratete er die Tochter des Besitzers, Miriam Nierenstein. Sie blieben bis zu ihrem Tod zusammen. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion traten Chimen und Miriam der Kommunistischen Partei Englands bei. Überzeugte Hitlergegner und Antifaschisten waren sie schon vorher gewesen. Ihr Haus entwickelte sich zu einem wichtigen Treffpunkt englischer Kommunisten.
»Tag für Tag stiegen Scharen von Besuchern die mattroten Ziegelstufen zur Tür hinauf, ihre Hände auf dem wackeligen Holzgeländer. Wenn sie das Haus im Hillway betraten, fiel ihr Blick als Erstes auf die Bücher in der Diele. Die dünnen Taschenbuch-Biographien bedeutender Männer. Die gewichtigen sozialistischen Fachenzyklopädien. (…) Wären die Besucher lange genug in der Diele stehen geblieben, um den einen oder anderen Band aus den Regalen zu nehmen, hätten sie eine vollständige zweite Bücherreihe hinter der vorderen entdeckt. Dort standen viele Studien über die gescheiterten europäischen Revolutionen von 1848 (…)«
Chimen Abramsky entwickelte den Ehrgeiz, möglichst viele Bücher über die kommunistischen und sozialistischen Bewegungen zu sammeln. So hat er im Laufe der Jahre in seinem Haus eine der größten Privatsammlungen dazu zusammengetragen.
Sasha Abramsky stellt in seinem Buch Zimmer für Zimmer vor. Zum einen in ihrer Funktion innerhalb des Hauses, aber auch mit den dort verstauten Büchern. Im Wohnzimmer versammelte sich fast jeden Abend eine bunte Mischung an Gästen. Es gab bestimmt Zeiten, in denen Mimis Kochkünste ähnlich wichtig waren, wie die anschließenden Diskussionen. In den Augen von Sasha Abramsky lebte in ihnen die Tradition der jüdischen Aufklärung, der Haskala fort.
»In Chimens und Mimis Wohnzimmer wurden die von der Haskala unter den Juden entfachten Diskussionen leidenschaftlich weitergeführt – zwischen Hausbewohnern und Gästen wie auch in den abertausend Büchern, die zwischen dem unebenen Fußboden, und der Decke mit ihrer abblätternden Farbe verstaut waren: Zionismus gegen internationalen Sozialismus, Assimilierung im Unterschied zum Nationalismus, Religion gegen Säkularismus, Tradition gegen Moderne, die Autorität der Rabbiner im Gegensatz zur Macht der neuen Revolutionäre.«
Nachdem er sich nach dem Aufstand in Ungarn 1956 gemeinsam mit seiner Frau enttäuscht von der Partei abgewandt hatte, verkaufte Chimen Abramsky die Sammlung und wandte sich Büchern über das Judentum zu. Auch in diesem Bereich entwickelte er eine ausgesprochene Sammlerleidenschaft.
Das Haus wechselte nun nach und nach seine Besucher. Chimen wandte sich jetzt dem Zionismus zu, den er davor abgelehnt hatte. Seine politische Heimat fand er jetzt bei den englischen Sozialdemokraten. Er entwickelte sich zum Fachmann für jüdische Literatur, wobei es ihm besonders die Texte der von der spanischen Inquisition vertriebenen Juden angetan hatten. In dieser Phase seines Lebens arbeitete er auch für das Auktionshaus Sotheby´s als Gutachter.
Obwohl er sich von der Kommunistischen Partei abgewandt hatte, hat er Mitte der sechziger Jahre zusammen mit Henry Collins ein Buch über die britische Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert geschrieben. Es wurde schnell zu einem Standardbuch zu diesem Thema. Am Ende seines Lebens wurde er noch in London zum Professor für Hebräische und Jüdische Studien berufen. Endlich konnte er das tun, was er schon immer wollte: Junge Menschen an seinem enormen Wissen teilhaben lassen. Das Buch erfüllt zwei wichtige Voraussetzungen um viele Leser zu finden. Es ist eine gutgeschriebene Biographie und die Geschichte einer Suche nach dem richtigen Leben im falschen. Nach der Lektüre wusste ich, dass es möglich ist. Mit anderen Worten, es wird eines meiner Lieblingsbücher.

Sasha Abramsky »Das Haus der zwanzigtausend Bücher« DTV Verlag