Brüchige Rituale
14. Januar 2017
Möglichkeiten und Defizite der »Erinnerungskultur«
Erinnerung will Zukunft. »Nie wieder« oder »immer wieder« sind ihre beiden Grundmelodien. Thomas Willms klopft die Erinnerung an Auschwitz darauf ab. Auf dieses »Nie wieder«. Das so selbstverständlich scheint, aber – wie sich herausstellt – dieses Selbstverständliche nicht ein für alle Mal in sich trägt, sondern es immer wieder eingearbeitet bekommen muss. Willms unterzieht diese Einarbeitung gründlicher Prüfung. Kenntnisreich, mutig, diszipliniert, präzise. Und nie einen Zweifel daran lassend, das nur mit einem lebendigen, konsequent ums Wesentliche ringenden, sich stetig erneuernden »Nie wieder« dauerhaft friedliche, humanistische Zukunft gewonnen werden kann.
Seine Bilanz freilich ist dergestalt, dass sie – wie er in der Einleitung vorausahnt – »den Leserinnen und Lesern überwiegend pessimistisch vorkommen« könnte. Denn er legt die Brüchigkeit liebgewordener Erinnerungsrituale bloß, kommt alarmierenden Oberflächlichkeiten auf die Spur, zeigt die Hybris selbst besonders gut gemeinter Erinnerungskonzepte und macht nachdrücklich auf die Kraft des »Nazi- und Weltkriegsmarktes« aufmerksam, auf dem in gewaltigem Umfang eine »kommerzielle Verwertung von Elementen des historischen Faschismus« stattfindet, die »ohne Zweifel ideologische Folgen« haben werde. Deren konkrete Formen seien noch offen.
Dies illustriert er mit kurzen, aber umso eindrücklicheren Kapiteln, die – weil sie eher episodenhaft aneinandergereiht denn zwingend miteinander verkoppelt sind – auch einzeln gelesen werden können. So gibt es einen philosophischen Exkurs über das Erinnern als Prozess und über die in der Öffentlichkeit »Erinnerung« genannte »Kultur und Politik« sowie einen, der unter der Überschrift »Schlechte Gefühle« die vielfältigen Probleme bei der Konfrontation mit dem Katastrophischen zu erfassen sucht. In »Missverständnisse über NS-Lager« wird die Fokussierung der Gedenkstättenkultur auf Au-schwitz thematisiert: »Auf einer Skala des Schreckens rangieren die drei ‚Lager’ Sobibor, Bełżec und Treblinka vor Auschwitz und Maidanek. […] Die Insassen der ankommenden Züge wurden sofort und vollständig umgebracht. Es waren überhaupt keine ‚Lager‘, […] sondern Tötungszentren.« Die genannten Orte seien aber nicht »touristische Orte« wie Auschwitz und erregten daher kaum noch Aufmerksamkeit. Ein »touristischer Ort« wie Auschwitz wiederum sei immer auch ein Ort des »dunklen Tourismus« – also jenes Reisens, das auf Orte des Schreckens und Mordens »aus Neugier« zielt. Kritisch sieht Willms im Zusammenhang mit dem Touristischen auch die Anstrengungen, mit denen in der Gedenkstätte Auschwitz dem »Verfaulen der Holzbaracken« und »Verfallen der Steinbauten« begegnet wird und in deren Folge »paradoxerweise das Lagergelände immer unauthentischer wird«.
Den Beobachtungen an den Gedenkorten folgen Betrachtungen zu »Italienischem«, »Deutschem«, »Französischem«, »Polnischem«, »Britischem« und »US-Amerikanischem« im Umgang mit Faschismus, Krieg und Völkermord. Exemplarisch herausgehoben seien hier zwei Abschnitte. Zum einen der, in dem sich Willms unter »Italienisches« scharf mit Giorgio Agamben, auf dessen »Auschwitz-Interpretation« man in der Diskussion mit dem akademischen Nachwuchs »zunehmend« stoße, auseinandersetzt. Agamben mache – der Buchtitel geht darauf zurück – »die NS-Verbrechen, die er unter ‚Auschwitz‘ subsumiert und schematisiert«, zum »Objekt und Steinbruch zur Formulierung politisch-philosophischer Ziele«; sein im Zusammenhang mit den Forschungen zu den »Muselmännern« – Häftlingen, deren Lebenswille erloschen zu sein schien – zu beobachtendes »Insistieren darauf, lebende, fühlende, leidende und ganz überwiegend jüdische Menschen unbedingt als ‚Nicht-Menschen‘ vorzuführen«, sei »schwer erträglich«; und ebenso unerträglich sei die Übernahme des »Gestus des Wissenden, des herrisch Proklamierenden, der Unterwerfung der Realität unter polarisierende Schemata« von Carl Schmitt, dem »wichtigsten Autor der deutschen antidemokratischen Rechten der Weimarer Republik«.
Und zum anderen unter »Deutsches« der Abschnitt »Geschichtsrevisionismus heute: Unsere Mütter, unsere Väter«. Mit diesem Film aus dem Jahre 2013, in dem alle fünf Protagonisten gleichermaßen »ohne eigenen Antrieb oder eigenes Interesse zu bösen Dingen gezwungen oder in sie verwickelt« werden, falle die Darstellung »in die Zeit der 1950er und frühen 1960er Jahre zurück« und negiere »alle kritischen Anstrengungen insbesondere der tatsächlichen Generation der Kinder der NS-Generation«.
Willms verschafft den Leserinnen und Lesern seines schmalen Bändchens unruhige Stunden. Er tut es in der Überzeugung, dass »unbequeme Fragen zu stellen […] wir den Frauen und Männern schuldig« seien, »die zu Opfern des Nazismus wurden, noch stärker aber den Menschen der Zukunft, die sich nicht zu sicher vor der Gefahr einer Wiedergeburt des faschistischen Schreckens sein sollten.«
Bedeutsam ist, dass sich die kommerzielle Verwertung von Elementen des historischen Faschismus auf Werte wie ‚Heroismus‘, ‚maskulines Kämpfertum‘ und eine kritiklose Bewunderung des Militärischen konzentriert, die allesamt nicht singulär für den Faschismus stehen, aber in ihm eine historische Zuspitzung gefunden haben. Die seit Jahrzehnten tätigen neofaschistischen Organisationen, Verlage und anderen Medien können auf diese Weise erleben, wie einige ihrer Fetische ganz ohne eigenes Zutun Verbreitung finden, und es sei nur eine Frage der Zeit, wann sie daran andocken werden.