Kein »humanitärer« Akt

geschrieben von Gregor Horn

17. Januar 2017

Warum der »Dschungel« von Calais wirklich geräumt wurde

Frankreich nahm 2015 nicht einmal 80.000 Flüchtlinge auf. Trotzdem beschäftigt die Asylproblematik das ganze Land. Gerade der »Dschungel« wurde zum Politikum. Als François Hollande am 26. September nach Calais kommt, erreicht Marine Le Pen gerade bis zu 33 Prozent in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl. Ein Sieg des Front National scheint schon seit Monaten nicht mehr ausgeschlossen. »Ich bin auch nach Calais gekommen, um die Entscheidung zu bestätigen, die ich mit der Regierung getroffen habe […]: definitiv, vollkommen und schnell zu räumen«, erklärt ein Präsident, der in den Umfragen nicht unbeliebter sein könnte. Der Entschluss den »Dschungel« komplett zu räumen war bereits vorher bekannt. Komplett, das bedeutete auch das aus Containern bestehende provisorische Ankunftszentrum und das Lager für die Frauen und Kinder. Damit erfüllte die Regierung auch die Forderungen von Rechten, die Anfang September in Calais demonstriert und anschließend die Autobahn blockiert hatten. Ihre Demonstration war erlaubt worden, während eine von einem Bündnis flüchtlingsfreundlicher Gruppen organisierte spätere Versammlung verboten wurde. Diese wollten eigentlich an die Verantwortung Großbritanniens zur Aufnahme von Flüchtlingen appellieren. Das Ziel sei es gewesen »[…] Solidarität mit den Geflüchteten in Calais auszudrücken, gegen die europäische Politik zu protestieren und das volle Recht auf Asyl und Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zu bekräftigen.« Auch der Bau einer einen Kilometer langen Mauer, die die ohnehin schon maßlos übertriebenen Grenzanlagen auf französischem Boden erweitern wird, sollte verurteilt werden. Dass diese Kritik eigentlich bitter notwendig gewesen wäre, zeigen allein die mindestens 13 (bekannten) Tode von Geflüchteten, die bei dem Versuch nach Großbritannien zu kommen umkamen. Darunter zuletzt ein vierzehnjähriger Junge, der zu seiner Familie nach England wollte, und auf der Autobahn von einem Auto erfasst wurde. Derartige Tragödien finden allerdings wenig Widerhall in den französischen und englischen Medien. Vielmehr wird darüber diskutiert, wie man 12.000 Flüchtlinge aus den Camps in Paris und Calais über ganz Frankreich verteilt. Zum Vergleich: Im Sommer letzten Jahres kamen bis zu 14.000 Menschen am Tag nach Deutschland. Während Rechte also an vielen Orten gegen die Entstehung der neuen Aufnahmezentren protestierten, inszenierte die Regierung die Räumung als humanitären Akt. Und auch wenn sie es erst einmal schaffte, mehr oder weniger provisorische Zentren für diejenigen einzurichten, die kurz zuvor noch in selbstgebauten Hütten und Zelten hausen mussten, so hat sie doch keine Lösung für jene, die weiterhin nach Großbritannien wollen. Sei es, weil dort ihre Verwandten auf sie warten oder weil sie keine Chance auf Asyl in Frankreich haben und ihnen hier nichts als ihre Abschiebung bevorsteht. Solange eine Grenze sie an der legalen und sicheren Einreise hindert, werden sie weiterhin versuchen, nach Großbritannien zu kommen und weiterhin ihr Leben aufs Spiel setzen. Die Räumung des Camps bedeutet vielleicht ein vorläufiges Ende des »Dschungels«, wie er in den letzten Jahren existiert hat, aber gewiss kein Ende des politischen und moralischen Dschungels, der sich um die Problematik der Abschottung schlingt. Eine humanitäre Lösung kann es letztendlich nur ohne Stacheldraht, Mauern und Grenzanlagen geben.

Ende Oktober wurde der »Dschungel« von Calais durch die französische Polizei geräumt. Rund 12.000 Menschen hatten sich hier in den letzten Jahren eingefunden und verzweifelt versucht, über den Kanal nach Großbritannien zu gelangen – oft zu dort lebenden Freunden oder Verwandten. Wer nun nicht freiwillig einen Asylantrag in Frankreich stellte und damit die Voraussetzung für den Transfer in ein offizielles Lager für Geflüchtete schuf, wurde vertrieben, die mit den geringen zur Verfügung stehenden Mitteln selbst errichteten provisorischen Unterkünfte wurden platt gewalzt.

Unser junger Kamerad Gregor gehört zu den wenigen Menschen, die – manchmal für Wochen, manchmal für Monate – versucht haben, die im »Dschungel« Gestrandeten dort vor Ort solidarisch zu unterstützen. Er hat uns den nebenstehenden Bericht geschickt.