Gerechtigkeit jetzt

geschrieben von Kamil Majchrzak

20. März 2017

Ghetto-Renten müssen endlich gezahlt werden

Seit Jahrzehnten kämpfen Überlebende der Shoah und des Porajmos um Ghetto-Renten. Erst 1997 erkannte das Bundessozialgericht, dass die Arbeit in deutschen Ghettos (Gegenstand war ein Streitfall aus dem Getto Litzmannstadt) nicht als Zwangsarbeit, sondern mit regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gleichgestellt werden kann, wenn diese freiwillig und gegen Entgelt aufgenommen wurde. 2002 folgte ein entsprechendes Ghettorentengesetz (ZRBG), das die Auszahlung einer Ghetto-Rente ermöglichen sollte. Überlebende Juden und Roma mit Wohnsitz in Polen mussten aber erst die Unterzeichnung eines entsprechenden deutsch-polnischen Abkommens im Dezember 2014 erwirken, um anschließend festzustellen, dass die Voraussetzungen für eine reguläre deutsche Rente kaum mit den historischen Verhältnissen in deutschen Ghettos in Einklang zu bringen sind. So wurde zwar die Beschäftigung im Ghetto endlich anerkannt, zugleich schlossen andere Voraussetzungen die Auszahlung wieder aus. Dies betrifft insbesondere Roma-Kinder, die noch vor Vollendung ihres 14. Lebensjahres in Ghettos beschäftigt wurden. Dabei muss gerade den für ihr Leben lang traumatisierten Kindern, die in Ghettos beschäftigt wurden, besonderer Schutz und Anerkennung – auch im rentenrechtlichen Sinne – zuteilwerden.
Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust versammelten sich deshalb Überlebende Roma und Juden am Holocaust-Mahnmal und forderten die sofortige Verankerung einer subsidiären Wartezeit-Anerkennung im ZRBG und die Anerkennung der gesamten Zeit der NS-Verfolgung als verfolgungsbedingte, rentenrechtlich anrechenbare Ersatzzeit für alle Ghetto-Beschäftigten unabhängig vom Alter. Hintergrund der Forderung ist, dass unstrittig erworbene Ghetto-Beitragszeiten allein nie zu einer Ghetto-Rente führen, wenn nicht insgesamt 60 Kalendermonate an einer Mindestversicherungszeit (Wartezeit) in der deutschen Rentenversicherung vorgelegt werden können. Doch die von Deutschen eingerichteten Ghettos bestanden höchstens 48 Kalendermonate, bevor deren Insassen in Vernichtungslager deportiert und ermordet wurden. Lücken in der Versicherungszeit können zwar zwar durch sogenannte Ersatzzeiten aufgefüllt werden, doch gerade dies wird für Kinder unter 14 Jahren ausgeschlossen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass solche Kinder zur Schule hätten gehen sollen, anstatt zur Arbeit und ihnen somit kein zu ersetzender rentenrechtlicher Schaden entstanden sei.
Die Protest-Aktion wurde von der Initiative »Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt!« zusammen mit der Berliner VVN-BdA, den Jüdischen Gemeinden und dem Roma-Verband aus Polen durchgeführt. »Wir wollen den deutschen Gesetzgeber zu einem Perspektiven-Wechsel gegenüber den letzten ghetto-überlebenden Juden, Sinti und Roma bewegen« – erklärte Roman Kwiatkowski, Vorsitzender des Roma-Verbandes.
»Als kleines Kind floh ich mit meiner Familie durch die Kriegs-Hölle. Ich erlebte Elend und Hunger im Ghetto, musste kleinere Beschäftigungen, die in meinem Alter möglich waren, aufnehmen, dank derer ich leben durfte. Nach dem Krieg versteckte ich mich vor der Verfolgung in den Wäldern. Doch diese Verfolgungs-Zeit wird nicht als verfolgungsbedingte Ersatzzeit im ZRBG anerkannt, weil ich damals noch nicht 14 Jahre alt war.« – erläuterte der Ghetto-Überlebende Roma Władysław Wejs.
»Es ist der politische Wille, der auch heute noch fehlt. Offenbar spekuliert man angesichts unseres Alters auf eine biologische Lösung des Problems. Denn man kann nicht bei gesundem Menschenverstand an die Beschäftigung im Ghetto während des Nationalsozialismus einen Maßstab anlegen, der nur in Bedingungen einer zivilisierten Gesellschaftsordnung realisierbar ist.« – erklärte Marian Kalwary, Überlebender des Ghettos Warschau und Bevollmächtigter der Vereinigung der Jüdischen Gemeinden aus Polen. Kalwary wandte sich am gleichen Tag gemeinsam mit Kwiatkowski in einem Protestbrief an den Deutschen Bundestag. Zugleich haben sich Historikerinnen und Intellektuelle mit einem Offenen Brief an Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles gewandt und eine dringende Korrektur des ZRBG auch aufgrund der Gefahren von Altersarmut unter den Holocaust-Überlebenden in Europa gefordert. Kalwary erklärte: »Die rücksichtlose und von dem eigentlichen Sinn des ZRBG völlig abstrahierende Anwendung der gegenwärtigen diskriminierenden Regelungen erlebte ich am eigenen Leibe. Ich floh aus dem Ghetto Warschau und Wołomin vor den Deportationen in Vernichtungslager. Ab Januar 1943 arbeitete ich mit falschen ›arischen‹ Papieren in einer Treuhand-Firma. Den Firmenleiter störte es nicht, dass ich erst 12 Jahre alt war. Ich habe bis heute sogar meinen damaligen Dienstausweis mit dem korrekten Geburtsdatum. Ich arbeitete dort bis zur Befreiung im Januar 1945. Das war eine offizielle Arbeit, die amtskundig war. Ich hatte ja auch offiziell Lebensmittelmarken zugeteilt bekommen als Arbeiter. Die Deutsche Rentenversicherung hat aber diese Beschäftigungszeit weder als Beschäftigung noch als Ersatzzeit anerkannt.«

Die Forderung nach einer rentenrechtlichen Lösung zur Behebung dieser gravierenden Gerechtigkeits-Lücke wird unterstützt durch die Jewish Claims Conference, den Zentralrat der Juden in Deutschland, den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Berliner VVN-BdA und andere namhafte Organisationen.