Das »schlechte Gewissen«
7. Mai 2017
Untersuchung über die »Arbeitsgemeinschaft Verfolgter Sozialdemokraten«
In dieser Veröffentlichung geht es um eine der beiden Parteien, die die Bundesrepublik prägten, und ihr Verhältnis zum Schlüsselproblem deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Die Autorin hat wertvolle Quellen erschlossen und wird dem Anliegen insgesamt überzeugend gerecht. »Der Umgang mit der NS-Vergangenheit, so die Ausgangsthese, war von Widersprüchen und Interessenkonflikten bestimmt – und gekennzeichnet durch Kompromisse und Zugeständnisse der einst widerständigen Minderheit gegenüber der Mehrheit der Deutschen.« Die Darstellung folgt in sechs Kapiteln dem zeitlichen Verlauf. Der vom SPD-Vorsitzenden in den Westzonen, Kurt Schumacher, erhobene Führungsanspruch sowie antikapitalistische Forderungen scheiterten rasch. Die SPD-Führung fügte sich restaurativen Grundprozessen. Sie entschied sich für Zugeständnisse an die Vorstellungswelt von Millionen ehemaliger Mitläufer und Täter. Antikommunismus lähmte das antifaschistische Potential der deutschen Sozialdemokratie. 1948 verbot der Parteivorstand der SPD die gleichzeitige Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und gründete die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten (AvS). Der geringe Einfluss der AvS innerhalb der Partei und darüber hinaus durchzieht die gesamte Darstellung.
»Konsens herrschte zwischen den großen Fraktionen beim Umgang mit den sogenannte 131ern.« SPD-Politiker traten dafür ein, verurteilte Kriegsverbrecher zu begnadigen oder Strafen zu mindern. Im Dortmunder Aktionsprogramm vom 28. September 1952 plädierte die SPD für eine großzügige Amnestie und Begnadigung von »verurteilten kriegsgefangenen Deutschen«. Sie forderte, die Waffen-SS in die Versorgung nach dem 131er-Gesetz einzubeziehen und entschied sich dafür, »gute Kontakte zu den Traditionsverbänden der ehemaligen Soldaten zu pflegen.«. Im Umgang mit der Widerstandsbewegung rückten die bürgerlichen Parteien den 20. Juli 1944 in den Mittelpunkt. Die Erwartungen der sozialdemokratischen Verfolgten ignorierend, reagierte die SPD-Führung »nicht etwa mit der Hervorhebung des Arbeiterwiderstands oder der Profilierung eines spezifisch sozialdemokratischen Widerstandsgedächtnisses, sondern mit einer demonstrativen Hinwendung zum 20. Juli.« Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« im November 1959 in Karlsruhe veranstaltete der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Der SPD-Vorstand distanzierte sich und schloss drei beteiligte Karlsruher SPD-Mitglieder aus der Partei aus. Wenig später stellte er die Förderung des SDS ein. Die SPD initiierte eine Änderung des Strafgesetzbuches, mit der das Strafmaß gegen Rechtsextremismus verschärft wurde und die der Bundestag am 20. Mai 1960 verabschiedete. Die Fälle Globke und Oberländer blieben in der sozialdemokratischen Kritik der Adenauerschen Vergangenheitspolitik präsent. Die SPD unterstützte ab den sechziger Jahren verstärkt die Wiedergutmachung gegenüber den jüdischen Opfern und Israel. Andererseits drängte die AvS auf überfällige Novellierungen des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Die SPD wandte sich gegen die von Union und FDP angestrebte Verjährung von Mord – also sämtlicher Nazi- und Kriegsverbrechen – am 8. Mai 1965. Als Kompromiss wurde die Verjährungsfrist auf September 1979 verschoben. Der Regierung unter K. G. Kiesinger und Vizekanzler W. Brandt (1966-1969) gehörten auch SPD-Minister mit NS-Vergangenheit an: Lauritz Lauritzen und Karl Schiller. Die Erwartungen antifaschistischer Sozialdemokraten an die Koalition von SPD und FDP ab Herbst 1969 erfüllten sich nicht; die AvS signalisierte 1974 einen Tiefpunkt ihrer Situation. Ab 1979 beteiligten sich Aktive der AvS verstärkt als Zeitzeugen zum Dritten Reich. Im November 1983 veranstaltete die AvS die Tagung »Warum wurde der Arbeiterwiderstand gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nicht gewürdigt?« Ehemals Verfolgte äußerten: »Wir waren das schlechte Gewissen der Nation, das schlechte Gewissen auch der Partei. Man hätte liebend gerne Straßen nach uns benannt; aber wir sollten unauffällig bleiben.« Ihnen wurde geraten, mit ihren Erfahrungen »die anderen« nicht zu verprellen. Der Band stellt engagierte sozialdemokratische Politiker wie Adolf Arndt, Gerhard Jahn und Hans-Jochen Vogel vor. Verdienstvoll ist die Würdigung wenig bekannter Aktiver der AvS, die für die Würdigung des Arbeiterwiderstands und seiner Erfahrungen, für die Ahndung der Verbrechen und eine kritische Haltung zur offiziellen Geschichts- und Gedenkpolitik sowie für Wiedergutmachung und sozialen Beistand für NS-Opfer eintraten. Führungen der SPD haben einen erheblichen Anteil an der »Zweiten Schuld« (Ralph Giordano). Allzu oft mussten das bis 1945 verfolgte Sozialdemokraten mit Unverständnis, Kritik und Bitterkeit hinnehmen. Ihre Lebenswege und Beiträge sind als Vermächtnis in die Erinnerung der Gesellschaft aufzunehmen.