Politisch ohne Plattitüden

geschrieben von Ulrich Schneider

24. September 2017

Ein kurzer Eindruck von der documenta14

Das bürgerliche Feuilleton von Spiegel bis FAZ ist sich einig: Diese documenta14 ist wenig innovativ, dafür zu politisch und kommt »mit erhobenem Zeigefinger« daher. Man sehe die Ursachen des Elends dieser Welt vor allem im Kapitalismus und Kolonialismus. Cornelius Tittel legte in der »Welt« nach: »Traurige, verzweifelte oder resignierte Bildungsbürgergesichter« erlebten die »tiefste documenta-Krise ihrer Geschichte«. In der Tat haben die bürgerlichen Feuilletonisten ein richtiges Gespür für die Botschaft, die von dieser Kunstausstellung ausgeht. Das Kuratoren-Team unter Adam Szymczyk orientierte sich nicht an den Sammlern, Galeristen und dem Kunstmarkt, sondern – ausgehend von dem Motto »Von Athen lernen« – an Vorstellungen einer anderen, toleranteren, friedlicheren und sozial gerechteren Welt, die möglich erscheint, wobei der Kunst die Aufgabe gegeben ist, mit ihren darstellerischen Formen und Mitteln Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten aufzuzeigen, aber auch Visionen zu formulieren.

Es fängt damit an, dass unter den 160 Namen nicht allein Zeitgenossen zu finden sind, sondern auch Werke von längst verstorbenen Künstlerinnen und Künstlern und historische Dokumente in einen Dialog mit Gegenwartskunst gestellt werden. Dass dabei manche Zuordnungen teilweise nur vermittelt nachvollziehbar sind, sei zugestanden. So findet man in der »Neuen Galerie« beispielsweise das Porträt von Arnold Bode gemalt von Gerhard Richter (1964). Auch Zeichnungen von Emil Ludwig Grimm (ca. 1850), die sein Bild der kolonialen Zeit wiedergeben, findet man neben Zitaten und einer Ausgabe des französischen »Codex noir«, der 1685 noch von Ludwig XIV verfasst über 150 Jahre die Regeln zur Behandlung schwarzer Sklaven festlegte. Im öffentlichen Programm der documenta14 wurde dieser Text ins Zentrum der aktuellen Diskussion gerückt. In künstlerischer Hinsicht werden Bilder und Installationen, die die antikoloniale Bewegung in verschiedenen Teilen der Welt repräsentieren, dem entgegen gestellt. Dazu gehören die Masken des Kanadiers Beau Dick, die Darstellungen des Kaschmir-Konflikts durch Nilima Sheikh (Neu Delhi), die eindrucksvollen Zeichnungen des indischen Kommunisten Chittaprosad über die Hungerkatastrophe in Bengalen 1944, die Darstellung der Ausbeutung und Unterdrückung indigener Kultur in Australien durch Gordon Hookey (Australien) und die großen farb-intensiven Bilder von El Hadji Sy (Dakar) auf als Leinwand genutzten alten Pfeffersäcken.

In den Kontext des Kolonialismus stellt die documenta auch die Flüchtlingskatastrophe und Arbeitsmigration, die sich in verschiedenen eindrucksvollen Werken wiederfinden. Auffällig das Werk von Guillermo Galindo (Mexiko City) »Fluchtzieleuropahavarieschallkörper«. Der Künstler hat Überreste zerborstener Flüchtlingsboote vor der griechischen Küste geborgen und zu »Klangkörpern« entwickelt, die raumfüllend von der Decke der Documenta-Halle hängen. Aus der Sammlung des Athener Museums für zeitgenössische Kunst ist die Installation von Vlassis Caniaris »Hopscotch« zu sehen, die die entwürdigende Alltagserfahrung von griechischen Arbeitsmigranten in Deutschland nachzeichnet. Und Olu Oguibe erinnert mit einem monumentalen Obelisk auf dem zentralen Platz der Stadt Kassel an den biblischen Auftrag »Ich war ein Fremder und ihr habt mich aufgenommen«. Hans Haacke setzt in mehrsprachigen Plakaten, die in der ganzen Stadt zu sehen sind, den nationalistischen Pegida-Parolen seine Botschaft »Wir (alle) sind das Volk« entgegen.

Antifaschismus und Friedenspolitik bilden ebenfalls zentrale Ausgangspunkte für Kunstwerke der documenta14. Und hier stieß die documenta14 auch an politische Grenzen. So verweigerte die Bundesregierung – der größte Sponsor der Ausstellung – ihre Unterstützung, dass die Sammlung Gurlitt, die 2012 unter dem Vorwurf der »Raubkunst« von der Augsburger Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurde und nach juristischem Streit und dem Tod von Cornelius Gurlitt an die Kunsthalle Bern vererbt wurde, als Gesamtobjekt in Kassel gezeigt werden konnte. Man wollte offenbar mit diesem Skandal der Raubkunst während der documenta14 nicht konfrontiert werden. Daraufhin lud das Kuratorenteam Maria Eichhorn (Berlin) ein, in der Neuen Galerie in drei Räumen ihr Rose Valland Institut zu präsentieren, mit dem sie sich auf die Suche nach Raubkunst und Bibliotheken verfolgter jüdischer Bürger macht.

Bemerkenswert ist, wie intensiv sich die Künstler mit der Kasseler Geschichte auseinandergesetzt haben Piotr Uklanski (Warschau) hat in seiner 203 Bilder umfassenden Sammlung »Real Nazis« auch Joseph Beuys untergebracht, dessen Werk »Das Rudel« im Nebenraum zu sehen ist.

Marta Minujin (Argentinien) platzierte ihren »Parthenon der Bücher« – eine 1:1-Nachbildung des historischen Tempels auf der Akropolis dekoriert mit etwa 100.000 Büchern, die in verschiedenen Zeiten und Ländern verboten waren – auf dem Friedrichsplatz, wo am 19. Mai 1933 die faschistische Bücherverbrennung inszeniert wurde. Dieses monumentale Werk ist dabei nicht nur Blickfang der documenta14, sondern auch Ort von Aktionen wie einer »langen Lesenacht« aus den Werken verbotener Autoren.

Und Bonita Ely (Sydney) verbindet in ihrer Installation »Memento mori« die Geschichte ihres traumatisierten Vaters, der im Pazifikkrieg an der Seite der Alliierten kämpfte, mit Bildern der Erinnerungskultur in Kassel, die mit Werken wie »Gleis der Erinnerung«, der »Rampe«, dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Fürstengarten und weiteren Beispielen das Gedenken an Verfolgung und Widerstand im öffentlichen Raum lebendig hält.

In einer Stadt der Rüstungsproduktion wie Kassel ist besonders das Werk von Andreas Angelidakis (Athen) von Bedeutung, der einen Panzer aus Schaumstoff mit Camouflage-Stoffen konstruierte, der – auseinandergenommen – Sitzmöbel bildet, die in der Rotunde des Friderizianum beim öffentlichen Programm vom Publikum als solche auch genutzt werden.

Ganz aktuell sind auch die Installationen von Sergio Zevallos (Lima) »A war machine«, bei dem der Künstler Personen des politischen und wirtschaftlichen Lebens, z.B. Ursula von der Leyen und Bundesbankpräsident Wiedemann, als Mitverantwortliche für die Entfesselung von Kriegen in der Welt entlarvt.

Einen besonderen Beitrag zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes leistet die Gruppe »Gesellschaft der Freunde von Halit« mit einer mehrteiligen Installation zur Ermordung von Halit Yozgat. Als die Polizei und die Medien noch von einer »Bosporus-Connection« sprachen, organisierten diese Antifaschisten bereits eine große Demonstration in Kassel gegen die rassistischen Morde – ohne bereits den NSU zu kennen. Präsentiert wird auch die Video-Dokumentation einer »Gegenuntersuchung« des Londoner Institut Forensic Architecture zum Tat-hergang in Kassel, aus der eindeutig hervorgeht, dass der VS-Mitarbeiter Andreas Temme nicht nur zur Tatzeit am Tatort war, sondern er – entgegen seiner Behauptungen vor Gericht – die Leiche des Ermordeten gesehen haben muss. Man stellt sich die Frage: »Wenn Temme nicht die Wahrheit sagt, und das wissen wir genau, was ist dann die Rolle des Gerichts, der Polizei, des Geheimdienstes, der Medien und anderer Teile der deutschen Gesellschaft?« Bis heute weigert sich das Gericht in München diese Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen.

Präsentiert wurde dieses Video schon bei der ersten Tagung des »Parliament of Bodies«, wie das öffentliche Begleitprogramm genannt wird. Hier sollen künstlerische und politische Themen zusammen debattiert werden. Als zur Eröffnung der documenta14 Antifaschisten an das Massaker von Distomo und die fehlende deutsche Entschädigung erinnerten, lud die documenta den Überlebenden Argyris Sfountouris ein, im Rahmen dieses Forums zu sprechen und das berechtigte Anliegen vorzustellen.

In der Tat, diese documenta14 ist politisch. Viele Werke geben – ohne Plattitüden – Impulse zum politischen Weiterdenken, auch dort, wo das bürgerliche Feuilleton lieber einen reinen Ästhetizismus bei Kunstwerken sehen möchte.