Was unterschlagen wurde

geschrieben von Cornelia Kerth

15. Oktober 2017

100.000 gegen Gewalt-Gipfel in Hamburg

Mehr als 100.000 Menschen haben zwischen dem 2. und 8. Juli 2017 in Hamburg für eine neue Welt des Friedens und der Freiheit demonstriert. Von Booten auf Elbe und Alster, mit Performances und abendlichem »Massencornern« mit Musik und Bier in der von der Innenbehörde ausgerufenen Sicherheitszone, die weite Teile des innerstädtischen Gebiets umfassten. Mit einem stets überfüllten »Gegen-Gipfel« auf dem Kampnagelgelände, mit Blockaden und mit mehreren Demonstrationen, an denen sich jeweils Tausende beteiligten. Der Höhepunkt waren 76.000, die am 8. Juli für »Grenzenlose Solidarität statt G 20« unterwegs waren: Alte, Junge und Kleinkinder, radikale Linke und Autonome ebenso wie Kirchengruppen, Gewerkschafter und das Bündnis »Jugend gegen G 20«, Menschen aus vielen Ländern, Geflüchtete und extra Angereiste, Klima-Aktivistinnen und Friedensbewegte und sogar ein kleiner Block mit Kameradinnen und Kameraden, die aus dem ganzen Bundesgebiet angereist waren und mit der Hamburger VVN-BdA zusammen »Flagge« und Transparente zeigten.

Was alle an den Protesten Beteiligten einte, war die Erkenntnis, dass von den beim G 20 Versammelten kein Beitrag zur Lösung der globalen Probleme erwartet werden kann. Beim Gipfel sitzen nicht nur besonders unappetitliche Repräsentanten repressiver, nationalistischer und rassistischer Regime am Tisch, sondern in ihrer Gesamtheit repräsentieren sie die Weltordnung, die durch hemmungslose Ausplünderung von Mensch und Natur die Probleme erzeugt, die sie vorgibt, lösen zu wollen. Allein die Anmaßung, in Gutsherren-Manier über »nachhaltige Entwicklung in Afrika« und damit über ökonomische und soziale Ziele und Wege für weitgehend Abwesende zu verhandeln und zu entscheiden, während die zuständigen UN-Gremien und Unterorganisationen finanziell ausgetrocknet und politisch entmachtet werden, verlangt Widerspruch. Dass die Vorschläge als Forderung nach weiterer Liberalisierung der Märkte und Privatisierung der »Entwicklungszusammenarbeit« einschließlich des ungehinderten Transfers der Profite daherkommen, ist zynisch. Schon heute gehen den Ländern des »Südens« durch Transfers von Gewinnen aus lokalen Wertschöpfungsketten jährlich rd. 20 Milliarden Dollar verloren.

VVN-BdA auf der Großdemonstration in Hamburg gegen den G20 Gipfel. Foto: U. Stephan, r-mediabase

VVN-BdA auf der Großdemonstration in Hamburg gegen den G20 Gipfel. Foto: U. Stephan, r-mediabase

Rüstungsexporte und Militärinterventionen, Müll-Exporte und zögerliche Maßnahmen gegen wesentlich der »westlichen Lebensart« geschuldeten Klimawandel, die in vielen Ländern übliche Vertreibung von Bauern von ihrem Land, um dort Plantagen, z. B. für Biotreibstoffe (»nachhaltig«) anzulegen – hunderte Menschen haben Monate daran gearbeitet, dies alles und noch viel mehr in Hamburg zur Sprache zu bringen und Gegenentwürfen zum globalen Kapitalismus zu diskutieren. Kritik und Utopie sollten sichtbar und hörbar werden. Sie waren in Hamburg nicht willkommen.

Da kamen die Bilder von Vermummten, die am Morgen nach dem Zusammenprügeln der »Welcome-to Hell«-Demo rund 45 Minuten vor laufenden Kameras in Altona Autos in Brand setzten, während an anderen Orten Demonstrierende und Blockierende von tausenden Polizisten gejagt und teilweise schwer verletzt wurden, gerade recht. Dass bis heute niemand weiß, wer die Akteure waren, dass die anschließenden Krawalle in der Umgebung der »Roten Flora« nach Aussagen, z. B. von benachbarten Gewerbetreibenden, eher »Erlebnistouristen« und Gaffern und keinesfalls den »Floristen« zuzuordnen sind, findet sich in der öffentlichen Debatte nicht wieder. Der »Linksextremismus« – von der »Flora« bis zur Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft – soll gründlich diskreditiert werden. Der Senat »prüft« Möglichkeiten, die »Flora« zu räumen, die CDU fordert »Programme gegen Linksextremismus«, die AfD fordert »Aussteigerprogramme«. Alle sind gegen »Gewalt« – außerhalb des staatlich uniformierten Monopols, versteht sich.

Die Gewalt einer ungerechten und für täglich 30.000 Kinder tödlichen Weltordnung, die Menschen dazu bringt, sich auf die lebensgefährliche Flucht durch die Wüste und über das Meer zu machen, spielt in der öffentlichen Meinungsbildung keine Rolle. Auch Menschenrechte nicht. Italien ist überfordert, Europa besteht auf »Dublin«, Deutschland schiebt ab nach Afghanistan und nach Griechenland zurück, die libysche Küstenwache weitet ihren Aktionsradius aus und bedroht Rettungsschiffe.

Derzeit mobilisieren Gruppen von Geflüchteten und antirassistische Zusammenhänge bundesweit zu einer großen und vielfältigen Demo am 16. September unter dem Motto »We’ll Come United« nach Berlin (siehe Rücktitel). Das ist eine wichtige Intervention, bei der die in der Gewalt-Debatte untergegangenen Fragen wieder zum Thema gemacht werden müssen.