Für die Literatur und die Erinnerung

geschrieben von Janka Kluge

1. April 2018

Zum Tod von Aharon Appelfeld

Am 4. Januar 2018 starb der Schriftsteller Aharon Appelfeld in seiner Wahlheimat Israel. Er lebte viele Jahre in dem Jerusalemer Stadtteil Rechavia. Hier wohnen bis heute viele israelische Intellektuelle. Appelfeld kam am 16. Februar 1932, mit dem Vornamen Erwin, in der Nähe von Czernowitz zur Welt. Die Stadt gehörte damals zum rumänischen Königreich. Heute liegt sie im Westen der Ukraine. Seine Eltern waren Teil der jüdischen Gemeinde der Stadt. In seinen mehr als 40 Büchern beschrieb er immer wieder das Leben von damals. In der Familie wurde deutsch gesprochen, so dass er es perfekt beherrschte.

Aharon Appelfeld ließ die Welt des untergegangen Judentums und seiner ermordeten Menschen in seinen Büchern wieder aufleben. Das Haus seiner Eltern wurde für eine kurze Zeit zu einem Zufluchtsort für geflohene, oder vertriebene Juden.

In dem Buch »Zeit der Wunder« heißt es: »Während der letzten Tage, die wir zu Hause verbrachten – und wir wussten nicht, dass es die letzten waren -, stand unsere Haustür offen. Und Fremde gingen aus und ein wie in einem Amtsgebäude. Mutter stand in der Küche und strich Brote. Die Fremden waren jüdische Geschäftsleute, die auf ihrer panischen Flucht vorübergehende Bleibe suchten. Auch gejagte Mädchen kamen, älter als ihre Jahre, bittere Linien durchzogen die puderverkrusteten Gesichter, die an Blumen mit braun geränderten Blütenblättern erinnerten; es kamen Frauen mit Kindern und andere, Gesichtslose, an denen bereits der Schmutz der Züge haftete, und ehrwürdige Kreise.«

Kurze Zeit später war er mit seinen Eltern, wie oft, bei den Großeltern zu Besuch. Die Eltern der Mutter lebten in einem kleinen Dorf in den Karpaten. Während des Besuchs, es war das Jahr 1940, wurde seine Mutter von rumänischen Antisemiten erschlagen, als er selbst mit Mumps im Bett lag. In einem Gespräch mit dem »Spiegel«-Autor Martin Doerry, das die Redaktion nach seinem Tod, noch einmal im Internet veröffentlicht hat, erzählt er: »Meine Mutter war im Hof, mein Vater war irgendwo bei einem Nachbarn. Ein Schuss ging in die Fensterscheibe. Ich bin ans Fenster, habe gesehen, was passierte und bin dann in das große Kornfeld hinter dem Haus gelaufen.« In diesem Feld hat er sich den ganzen Tag versteckt. Mit seinem Vater ist er zurück nach Czernowitz gereist.

Der rumänische König war ein Verbündeter Hitlers. Am Überfall auf die Sowjetunion waren von Anfang an zwei rumänische Armeen beteiligt. Auf dem eroberten Gebiet errichtete die rumänische Armee Arbeitslager und Gettos, um die jüdische Bevölkerung zu internieren. Die rumänischen Faschisten gingen ähnlich brutal vor wie die deutschen. Als die Deportierten an dem Fluss Dnjpr ankamen, wurden viele von ihnen ins Wasser getrieben und so ermordet. Nur Männer, die stark genug schienen, um sie in ein Arbeitslager zu schicken, wurden weiter nach Bessarabien getrieben. Über weite Strecken trug der Vater den Jungen. Sie kamen schließlich in so ein Arbeitslager. Nach wenigen Tagen wurde er von seinem Vater getrennt und kam in ein anderes Lager. Hier waren vor allem ältere Frauen und Kinder eingesperrt. Er erinnerte sich, dass viele von ihnen so geschwächt und krank waren, dass sie bereits nach wenigen Tagen gestorben sind. Er wusste, dass er fliehen musste, um überleben zu können. Jahrzehnte später hat Aharon Appelfeld betont, dass es sich dabei um kein KZ gehandelt habe, wie es die Nazis im Osten errichtet haben. Ihm gelang die Flucht aus dem Lager und er versteckte sich in einem nahen Wald. Um nicht zu verhungern lebte er von Gräsern und Blättern. Da er blond war und perfekt deutsch sprach, gab er sich als Deutscher aus und versuchte er bei den Bauern in der Umgebung eine Arbeit zu finden.

In dem »Spiegel«-Interview erzählt er weiter: »Ich war neuneinhalb, 1941. Aber der Bauer hatte genug Kinder, er hatte vier. Also habe ich weiter gesucht, und so habe ich gesehen, dass außerhalb des Dorfes vereinzelt noch andere Hütten standen, ärmere Hütten. Und dort habe ich eine Prostituierte gefunden, sie war die Dorfhure und sie hat mich akzeptiert. Während sie ihrer Arbeit nachging, musste ich den Haushalt erledigen. Waschen, Kochen, Einkaufen, die Kuh melken, im Garten arbeiten. Ich habe zu Hause die erste Klasse beendet, das Leben bei dieser Frau war, wenn man so will, die zweite Klasse.«

Als die Rote Armee auf ihrem Vormarsch in das Dorf kam schloss er sich ihr als Küchenjunge an. 1946 kam er dann über Italien nach Palästina, holte dann in Israel seine Schule nach. Danach hat er bei Martin Buber und Gershom Scholem studiert. Hier konnte er die Liebe zur Literatur, die er schon in seinem Elternhaus mit der großen Bibliothek seines Vaters kennengelernt hat, für sich entdecken.

Er hat im Laufe seines Lebens mehr als 40 Bücher geschrieben und Generationen von Studenten der Universität von Jerusalem gelehrt, dass Literatur mehr sein kann als schöne, oder spannende Geschichten.

 

Aharon Appelfeld, 2014

 

»Zeit der Wunder«, 1988, Rowohlt Taschenbuch, 256 Seiten