Antisemitismusstreit in Polen

geschrieben von Kamil Majchrzak

28. April 2018

Geschichtsdeutung als Projektion

Einen Tag vor dem Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust verabschiedete der polnische Sejm eine Novelle des Gesetzes über die »Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen am Polnischen Volk – Institut für Nationale Erinnerung« (IPN). Im Expresstempo durchlief das Gesetz auch die zweite Kammer des Parlaments und wurde kurz darauf von Präsident Andrzej Duda unterzeichnet.

Die polnische Regierung begründet die Novelle mit der Notwendigkeit, gegen Geschichtsklitterung vorzugehen und der Verwendung des Begriffes »polnische Lager« zu begegnen. Der bislang kaum bekannte Begriff »polnische Lager« erlangte aber erst durch das Gesetz und die anschließende internationale Kritik zweifelhafte Berühmtheit. Zuvor tauchte er eher als geographische Verkürzung in den Medien auf, was sowohl historisch als auch ethisch fragwürdig ist, insbesondere, wenn er in den Leitmedien des Aufarbeitungs-Weltmeisters Deutschland, z.B. vom ZDF, genutzt wurde.

Weder die polnische Exilregierung in London, noch der sogenannte Polnische Untergrundstaat verfolgten eine Politik der Vernichtung der Juden. Anders als zum Beispiel in Rumänien, gab es in Polen als Teil der Anti-Hitler-Koalition weder administrativ noch ideologisch Maßnahmen zur Beteiligung am Holocaust. Etwas anderes gilt jedoch für die Nationalen Streitkräfte (NSZ). Diese Militärformation sorgte sich in ihrem Bulletin »Walka« (Der Kampf) selbst noch im Juli 1943, als die deutschen Gaskammern von Sobibor auf Hochtouren liefen, dass vielleicht nicht alle Juden von Deutschen ermordet wurden und die Überlebenden eines Tages zurück kommen könnten um ihr von Nachbarn geraubtes Eigentum zurückzufordern. Das Blatt erklärte, dass jegliche Unterstützung für die Juden nicht im polnischen Interesse liege.

Die deutsche Verantwortung

Tatsächlich liegen Versuche, die alleinige Verantwortung der Bundesrepublik für die Ermordung der europäischen Juden zu relativieren, auf einer völlig anderen Ebene. Diese tangiert das neue Gesetz aber überhaupt nicht. Die Bundesrepublik verweigert sich nach wie vor beim Thema Reparationszahlungen oder der Anerkennung von Rentenversicherungsansprüchen Tausender polnischer Arbeiter. Gleiches gilt bei der Verantwortung für die Spätfolgen transgenerationeller Trauma-Weitergabe. Besonders problematisch ist die Weigerung der BRD, langfristig für den Unterhalt der Gedenkstätten in ehemaligen deutschen Vernichtungslagern zu sorgen. Unter Berufung auf die sogenannte Theresienstädter Erklärung bürdet die Bundesregierung die Verantwortung u.a. für die drei deutschen Lager der »Aktion Reinhardt« jenen Staaten auf, in denen sich heute die Gedenkstätten befinden.

Im Zentrum der Kritik steht der Wortlaut von Artikel 55a der Novelle, der bestimmt, dass »Wer öffentlich und entgegen Tatsachen der Polnischen Nation oder dem Polnischen Staat eine Verantwortung oder Mitverantwortung zuschreibt für Verbrechen im Sinne von Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg […], oder anderer Verbrechen gegen den Frieden, die Menschheit […] die vom III. Reich begangen wurden, oder in anderer Weise die Verantwortung der tatsächlichen Täter für diese Verbrechen eklatant schmälert, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft wird.« Das Besondere daran ist, dass für diesen Tatbestand die universelle Jurisdiktion polnischer Gerichte gilt. Somit können Ausländer selbst dann verfolgt werden, wenn die Tat im Ausland begangen wurde. Ein Fortschritt in der internationalen Verfolgung der Holocaust-Leugnung lässt sich hierin nur schwer ausmachen.

Der Holocaust stört die polnische Geschichts-Mystifikation

Juristisch betrachtet lässt sich das Gesetz ohnehin nicht umsetzten. So ist bislang rechtlich nicht definiert, wer zur »Polnischen Nation« gehört. Nationalisten mag das keine Probleme bereiten, da sie ein katholisches Polen ohne Juden und andere Minderheiten anstreben. Doch mit der geltenden Verfassung ist das nicht zu begründen. Das Gesetz macht auch angesichts der bisherigen Rechtspraxis keinen Sinn. Auf Grundlage des August-Dekretes vom 31.08.1944 wurden bereits zahlreiche Urteile gegen polnische Staatsbürger gefällt, die während der deutschen Besatzung ihre jüdischen Mitbürger verfolgt, ermordet oder an Deutsche ausgeliefert hatten.

Dies ist nicht etwa eine polnisch-jüdische Problematik, sondern vor allem eine Herausforderung, der sich die Polen als Gesellschaft und als Individuen allein stellen müssen. Denn selbst wenn es qualitativ und quantitativ ein Unterschied ist, ob ein Staat eine planmäßige antisemitische Politik verfolgt oder der Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft entspringt: Viele Polen haben aus antisemitischen Motiven aktiv mit den deutschen Faschisten kollaboriert. Der Verantwortung dafür muss sich die Gesellschaft insbesondere in der Bildungsarbeit stellen.