Eine Schreckensbilanz

geschrieben von Klaus-Dieter Müller

18. Juni 2018

Ausführliche Studie zu NS-Terror und Verfolgung in Sachsen

Die Geschichte Sachsens von 1933 bis 1945 ist sehr ambivalent: Auf der einen Seite bildete Sachsen als Kernland der deutschen Industrialisierung aufgrund der starken Arbeiterparteien SPD und KPD eine wichtige Basis für Widerstand gegen die NS-Herrschaft. Auf der anderen Seite gelang es der NSDAP – nach Bayern – gerade in Sachsen, bereits vor 1933 in bestimmten Landesteilen erfolgreich Fuß zu fassen, immer Wahlergebnisse über dem Reichsdurchschnitt zu erreichen und schnell die Gleichschaltung durchzusetzen. Einerseits wurde Sachsen nach 1933 dadurch in gewisser Sicht zum »NS-Musterland«, andererseits war Sachsen mit einem engen Netz von NS-Repressionseinrichtungen überzogen und hatte eine hohe Zahl von rassischen und politischen Opfern zu beklagen.

110 Wilde und Frühe Konzentrationslager sowie Gefängnisse in 79 sächsischen Orten, in denen ab März 1933 massenhaft Schutzhäftlinge festgehalten wurden; insgesamt etwa 30.000 Häftlinge in solchen Lagern bis 1937 mit Hunderten von Todesopfern; circa 4.600 inzwischen nachweisbare politische Prozesse mit knapp 13.500 Angeklagten von 1933 bis 1945; 1.615 Gegner des Nationalsozialismus, die in sogenannte Bewährungseinheiten der Wehrmacht überstellt wurden; mindestens 2.287 Todesopfer unter den politischen Widerständlern aller Gruppen von NS-Gegner, unter denen bei den noch quellengestützt nachweisbaren politischen Überzeugungen Kommunisten mit knapp 50 Prozent die größte Einzelgruppe bildeten; circa 25.000 Fälle von Zwangssterilisationen unter der sächsischen Bevölkerung; ca. 25.000 Ermordete als Opfer der verschiedenen »Euthanasie«-Aktionen der Nationalsozialisten in Sachsen; Hunderte von Opfern unter den sächsischen Sinti und Roma sowie etwa 6.000 im Rahmen des Holocaust ermordete sächsische Juden; sowie schließlich geschätzt Tausende von Opfern unter den bis zu 80.000 am Kriegsende von außerhalb durch Sachsen transportierten, in den 62 sächsischen KZ-Außenlagern umgekommenen oder auf Todesmärsche getriebenen KZ-Häftlinge dieser Lager in insgesamt 110 Transporten/Märschen.

Diese Schreckensbilanz gründet nur auf den Mindestzahlen von Opfern und Schicksalen (andere Opfergruppen wie ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene gehörten nicht zum Untersuchungsfokus), die eine Gruppe um den bekannten NS-Forscher Hans Brenner aus Zschopau in mehr als zwölfjähriger Forschungsarbeit in Dutzenden von Archiven hat ermitteln können. Insgesamt haben sich seit 2006 circa 50 ehrenamtlich arbeitende Personen, von denen sich manche schon zu DDR-Zeiten in der Aufarbeitung von NS-Verbrechen engagiert hatten, an diesem Vorhaben beteiligt. Nun liegt ein erstes, umfangreiches Ergebnis dieser Forschungen vor.

Das Buch ist in drei Darstellungsteile und einen umfangreichen Anhang gegliedert. In Teil 1 geht es um die Durchsetzung der NS-Herrschaft in Sachsen, um die Deformation des Rechtsstaates, die Durchsetzungs- und Gleichschaltungsmaßnahmen bei Justiz und Polizei sowie vor allem um das Schicksal wichtiger Opfer- und Widerstandsgruppen. Neben der Haltung der Kirchen zur NS-Bewegung wird das Schicksal der Zeugen Jehovas beleuchtet, es geht weiterhin um die Unterdrückung der Sorben, die Verfolgung von Homosexuellen und sogenannten Asozialen und schließlich um die rassenhygienischen Maßnahmen der Nazis: Zwangssterilisationen, »Euthanasie«-Morde sowie schließlich der Holocaust an Juden und Sinti und Roma, beides eingebettet in die Mordaktionen ab Beginn des Zweiten Weltkriegs durch Einsatzgruppen und Polizeibataillone in Polen und der Sowjetunion.

Zwei Bereiche des NS-Terrorsystems, die in dieser Studie ein besonderes Schwergewicht erhalten haben, die Frühen Konzentrationslager am Anfang der NS-Diktatur sowie die Todesmärsche und -bahntransporte von KZ-Häftlingen in der letzten Phase dieser Diktatur, sind bislang von der Forschung relativ spärlich bearbeitet worden und auch im kollektiven oder gar kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft immer noch unterrepräsentiert. Sie werden daher in Teil 2 und 3 der Studie gesondert beleuchtet. In Teil 2 gibt es einen Überblick über die ersten Verhaftungsaktionen nach der Machtergreifung, bei der kommunistische Gruppen zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten gehörten, über Häftlingszahlen der Frühen KZ, über Widerstand im KZ sowie insbesondere über die Geschichte des am längsten bestehenden KZ in Sachsen, Sachsenburg bei Frankenberg. Immerhin circa 7.100 Häftlinge konnten inzwischen namentlich zu Sachsenburg ermittelt werden. Teil 3 schildert die Entwicklung der KZ-Außenlager in Sachsen, beleuchtet ihre Häftlingsgruppen und Arbeitseinsätze, befasst sich mit der SS-Befehlslage bezüglich der KZ und schildert das Elend und die Verbrechen auf den Todesmärschen und -bahntransporten. Mehrere der Todesmärsche sind ausführlicher dargestellt. Die Todesmärsche waren NS-Verbrechen unmittelbar vor der Haustür. Einzelne Rettungsaktionen für jüdische Häftlinge bilden dabei leider nur humanitäre Ausnahmen in dem schrecklichen Geschehen.

Hans Brenner/ Wolfgang Heidrich/ Klaus-Dieter Müller/ Dietmar Wendler (Hg.), NS-Terror und Verfolgung in Sachsen. Von den Frühen Konzentrationslagern bis zu den Todesmärschen, 2. durchgesehene Auflage Dresden 2018, 624 Seiten.

Die 2. Auflage der Studie, deren 1. bereits vergriffen ist, ist weiterhin kostenlos für Sachsen (bzw. über eine Bereitstellungspauschale von 5,- € für Bezieher außerhalb Sachsens) zu beziehen über die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, die sie auch herausgegeben hat.

Im Anhang des Buches finden sich Karten zu den Frühen Konzentrationslagern und den sächsischen Außenlagern der KZ-Stammlager Buchenwald, Flossenbürg und Groß-Rosen. Standardisierte Tabellen zu den 110 Frühen KZ sowie den 62 sächsischen KZ, ein Nummernverzeichnis der 110 Transporte und Todesmärsche sowie ein alphabetisches Verzeichnis aller Orte, durch die diese Transporte verliefen