Kämpfer sein und Melodie

geschrieben von Dirk Krüger

27. September 2018

Vor 70 Jahren starb der Dichter und Publizist Alfred Kerr

Am 10. Mai 1933 warfen die Nazi-Barbaren auch die Bücher Alfred Kerrs auf den Scheiterhaufen der deutschen Kultur. Der achte Rufer grölte den »Feuerspruch«: »Gegen Verhunzung der deutschen Sprache! Für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergeben den Flammen die Schriften von Alfred Kerr!«

Der so »geehrte« wurde als Sohn einer wohlhabenden Familie 1867 in Breslau geboren und hatte sich vor allem als streitbarer Theaterkritiker, aber auch als Publizist und Schriftsteller (Gedichte und Reisebücher) einen Namen gemacht. Ihn hatten die Nazis bereits weit vor 1933 auf ihren Todes-Listen vermerkt.

Im Februar erreichte ihn und seine Familie die Warnung eines solidarisch gesinnten Polizisten. Am 15. Februar 1933 floh der fieberkranke Kerr mit seiner Familie, seiner Frau und ihren zwei Kindern, über die Tschechoslowakei, Österreich, die Schweiz und Frankreich nach England.

Alfred Kerr: Die Diktatur des Hausknechts und Melodien  Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, November 1983

Alfred Kerr: Die Diktatur des Hausknechts und Melodien
Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, November 1983

Er wurde ausgebürgert, sein ganzer Besitz in Deutschland geraubt. Die Nazis schickten ihm im Exil die Aufforderung zu, seine Einkommenssteuererklärung zu machen und den deutschen Finanzbehörden zuzusenden.

Bereits 1934 konnte in Brüssel seine Streitschrift »Die Diktatur des Hausknechts« erscheinen. Die Auflagenhöhe betrug 4.000 Exemplare.

Er hatte die »Textcollage« (Walter Huder) im Sommer 1934 in Paris beendet.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, denen er sogenannte »Torsprüche« voranstellt. Den ersten Teil übertitelt er »Die völkische Verwesung«, den zweiten Teil mit »Die vergebliche Warnung« und den dritten Teil mit »Wer hat die schönsten Schäfchen?…«

Der Grundtenor, das Grundanliegen des Buches aber ist und daraus erwächst auch seine aktuelle Bedeutung: Kerr will handeln, will kämpfen! Er will Hitler mit dem Buch nicht nur demaskieren, ihn an den Welt-Pranger stellen, sondern die Welt aufklären und zum antifaschistischen Kampf mobilisieren. Und er will alles tun, damit die Rechnung der Nazis, aus ihm mit der Vertreibung aus Deutschland ein willenloses Häufchen Elend zu machen, nicht aufgeht. Wir lesen an einer Stelle eine Art Bekenntnis: »Kennt ihr einen deutschen Spruch aus der gewesenen Heimat (der schon alt ist – und noch lange gelten wird); er heißt: ‚Ich komm, ich weiß nicht woher; ich geh, ich weiß nicht wohin; was ist’s, daß ich so fröhlich bin?‘ / Nur mit einer kleinen Variante zu sprechen: ‚Ich komm…ich weiß leider woher!‘«

Kerrs Gedichtband »Melodien« wurde 1938 in Paris publiziert. Es war das dritte Exil-Buch Kerrs. Auch dieses Buch, dessen Erlös den politischen Gefangenen in Deutschland zufließen sollte, war nicht als reiner Lyrikband gedacht und angelegt. Vielmehr diente es ebenfalls dem politischen, dem antifaschistischen Kampf. Es ist, seinem Charakter nach ein politisches Buch. Das gilt auch, wenn es sich nicht auf Kampf-, Aufruf- und Mahngedichte beschränkt, sondern auch Erinnerungs-, Bekenntnis- und Liebesgedichte enthält. Die Grundfärbung der Gedichte reicht von menschlichen Regungen wie Melancholie, Sentimentalität, Unwillen bis Zorn. Sie klagen den Verlust der Heimat durch den Faschismus an und sind gleichzeitig eine Warnung an alle, die noch nicht Opfer des Faschismus geworden sind, oder durch die Flucht in die Emigration bislang davor bewahrt wurden.

»Sehnsucht«
Freiheit schaffen, Freiheit leben.
Den Gesang des Seins erfühlen.
Meereswogen! Gipfelstille!
Abgeschiednen Seelen nah.
Im Bewußtsein des Verrinnens
Kämpfer sein und Melodie.

Heimatlich im Hauch der Höhe,
Witternd im Geleucht der Wolken,
Dennoch Bürger dieses Bodens,
Menschenbildern freund und fremd.
Tiefster Trost im Daseinsdämmer:
Kämpfer sein und Melodie.

Freiheit schaffen, Freiheit leben.
Den Gesang des Seins erfühlen.
Meereswogen! Gipfelstille!
Abgeschiednen Seelen nah.
Im Bewußtsein des Verrinnens
Kämpfer sein und Melodie.

Kerr hatte einst eine »Politik der Ethik« gefordert. Mit diesem Gedicht hat er ihr Ausdruck verliehen. Kerr, der am 12. Oktober 1948, also vor siebzig Jahren in Hamburg starb, hat als politischer Kämpfer, als Publizist, als Schriftsteller und Kritiker, hat trotz faschistischer Nazi-Herrschaft und Bedrohung des Weltfriedens, trotz erzwungener Emigration und des damit verbundenen Elends, der Existenzängste, trotz Heimweh, trotz Enttäuschungen durch das Verhalten alter Bekannter aus guten und gemeinsamen Zeiten nie aufgegeben das Leben zu lieben. Solange es ihm kräftemäßig möglich war, hat er als dem Humanismus verpflichteter Mensch weitergekämpft.