100 Jahre – 95 Jahre – 80 Jahre
5. Dezember 2018
Der 9. November als Datum deutscher Geschichte – Von Ulrich Schneider
Der 9. November wird gemeinhin als das deutsche Geschichtsdatum bezeichnet. Zumeist wird zu den Daten 1918, 1923 und 1938 noch das Jahr 1989 ergänzt und die Zufälligkeit der Datengleichheit dieser Jubiläen betont. Dabei besitzen die drei erstgenannten Daten durchaus einen unmittelbaren inneren Zusammenhang. Das sollte aus antifaschistischer Perspektive nicht aus dem Blick verloren werden.
Das zentrale Datum in diesem Jahr ist sicherlich der 100. Jahrestag der Novemberrevolution. An diesem Tag wurde offiziell der Rücktritt von Kaiser Wilhelm II bekannt gegeben und Philipp Scheidemann als Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) proklamierte die »deutsche Republik«, während wenige Stunden später Karl Liebknecht als Vertreter des Spartakusbundes die »freie sozialistische Republik Deutschland« verkündete. Grundlage für beide Erklärungen war das politische Machtvakuum, das durch den Aufstand der Kieler Matrosen am 4. November und den Beginn der politischen Erhebungen durch bewaffnete Arbeiter- und Soldatenräte geschaffen wurde. Die Ausrufung zweier unterschiedlicher Republikformen, die sich im Sinne der MSPD als parlamentarische Staatsform und im Sinne der USPD bzw. des Spartakusbundes als Rätedemokratie verstand, machte deutlich, dass selbst die Vertreter der politischen Linken von der Dynamik der revolutionären Entwicklung überrascht wurden.
Ausgehend von dem dominanten politischen Einfluss der MSPD beschloss eine große Mehrheit des 1. Reichsrätekongresses am 16. Dezember 1918 die baldige Durchführung freier Wahlen für eine Nationalversammlung und die Selbstauflösung der aus der Revolution hervorgegangenen Arbeiter- und Soldatenräte, um die politischen Ergebnisse der Revolution durch eine parlamentarische Demokratie zu legitimieren. Zugleich beschloss der Kongress die sofortige Sozialisierung kriegswichtiger Industriezweige und die Kontrolle des Militärs.
Anders als durch den Reichsrätekongress festgelegt, waren die Anhänger der revolutionären Arbeiterräte jedoch nicht bereit, ihre politische Macht widerstandslos abzugeben. Als auf Veranlassung der MSPD am 4. Januar der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn (USPD) entlassen wurde, beschloss der Vorstand der Berliner USPD zusammen mit den Revolutionären Obleuten, am folgenden Tag eine Protestdemonstration durchzuführen. Die Obleute waren frei gewählte, und damit von den Gewerkschaften und der MSPD unabhängige Betriebsräte. Sie hatten sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs vor allem in den Berliner Rüstungsbetrieben gebildet und u. a. den Januarstreik 1918 organisiert. Als Kriegsgegner hatten sie sich überwiegend der USPD angeschlossen.
Während der Demonstration besetzten bewaffnete Demonstranten die Druckereien des sozialdemokratischen »Vorwärts« und des Berliner Tageblatts sowie die Verlagsgebäude im Berliner Zeitungsviertel und das Wolffsche Telegraphenbüro. Das war der Auslöser für den sogenannten »Januaraufstand«, der in Form eines Generalstreiks und bewaffneter Auseinandersetzungen in Berlin vom 5. bis 12. Januar 1919 stattfand.
Die Führungen von USPD und KPD beschlossen rasch, die begonnene Besetzung zu unterstützen. Besetzer und Parteienvertreter bildeten am Abend des 5. Januar einen etwa 50-köpfigen »Revolutionsausschuss«. Dieser rief die Berliner Bevölkerung am Folgetag zu einem Generalstreik für den 7. Januar und zum Sturz der Regierung Ebert auf. Dem Aufruf folgten etwa 500.000 Menschen, die in die Innenstadt strömten.
Die Reaktion der MSPD-dominierten Teile der Reichsregierung (Rat der Volksbeauftragten) ließ nicht auf sich warten. Gestützt auf den Ebert-Groe-ner-Pakt vom November 1918, mit der die MSPD sich der militärischen Unterstützung der kaiserlichen Reichswehr versichert hatte für das Zugeständnis, dass die Generäle die Befehlsgewalt über die Armee behalten konnten, wurden bewaffnete Einheiten gegen die Revolutionäre in Marsch gesetzt.
Am 10. Januar überfiel die Brigade Reinhard unter Leitung des Kommandanten von Berlin, Oberst Wilhelm Reinhard, das Hauptquartier der Revolutionäre in Spandau. Am 11. Januar gab Gustav Noske (MSPD) den Einsatzbefehl gegen die Besetzer des »Vorwärts«. Die Angreifer waren mit Kriegsausrüstung bewaffnet und ihren Gegnern daher weit überlegen. Das Freikorps Potsdam eroberte das Gebäude mit Flammenwerfern, Maschinengewehren, Mörsern und Artillerie. Auch weitere besetzte Gebäude und Straßen im Zeitungsviertel wurden bis zum 12. Januar erobert. Das Militär erschoss über hundert Aufständische und eine unbekannte Zahl von Zivilisten vor Ort. Später wurden offiziell von 156 Todesopfern ausgegangen.
Am 13. Januar rückten die umliegenden Freikorps in die Stadt ein. Das größte von ihnen war die so genannte Garde-Kavallerie-Schützen-Division unter dem Offizier Waldemar Pabst, der im Krieg General Hans von Seeckt unterstand. Am 14. Januar verhafteten Soldaten der Einheit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und ermordeten die beiden Führer der neu gegründeten KPD auf bestialische Weise. Die »Berliner Zeitungen« begrüßten den Einzug nach Ende der Kämpfe als Wiederherstellung von »Ruhe und Ordnung«.
Während in Berlin die kaiserlichen Truppen noch die Revolutionäre bekämpften, riefen am 10. Januar 1919 in Bremen die linken Kräfte im Arbeiter- und Soldatenrat eine Bremer Räterepublik aus. Doch auch dieser Versuch einer revolutionären Entwicklung wurde durch die alten militärischen Einheiten am 4. Februar 1919 in Bremen und am 8./9. Februar 1919 in Bremerhaven blutig niedergeschlagen.
Doch damit war die gewaltsame Unterdrückung der revolutionären Bestrebungen in Deutschland noch nicht beendet. In der ersten Märzhälfte fanden in Berlin bewaffnete Auseinandersetzungen und Barrikadenkämpfe statt, bei denen über 1.200 Revolutionäre durch Freikorps und Militär ermordet wurden. Parallel zu den Berliner Märzkämpfen fanden auch im Ruhrgebiet und im damaligen mitteldeutschen Industrierevier um Halle/Merseburg Generalstreiks statt.
Ausgangspunkt der Märzkämpfe war die Forderung weiter Teile der revolutionären Arbeiterschaft nach Umsetzung der beschlossenen Sozialisierung der Schlüsselindustrien sowie der Bewahrung des Rätesystems. Beide Forderungen waren zentrale Anliegen der Novemberrevolution. Die Sozialisierung war im Dezember 1918 zwar vom ersten »Reichsrätekongress« aller deutschen Arbeiter- und Soldatenräte beschlossen worden, aber die neue Regierung unternahm keinerlei Schritte zu ihrer Umsetzung.
Trotz der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Bewegungen in Berlin und in Norddeutschland gab es im April 1919 in München noch einmal einen Versuch, mit der Errichtung der Bayerischen Räterepublik eine sozialistische Republik nach rätedemokratischem Muster durchzusetzen. Schon am 8. November 1918 entstand aus dem vormaligen Königreich Bayern der »Freistaat Bayern«, an deren Spitze Kurt Eisner (USPD) als erster Ministerpräsident der Bayerischen Republik stand. Nach einem tödlichen Mordanschlag auf Eisner vom 21. Februar 1919 kam es zur Spaltung zwischen dem revolutionären und dem gemäßigten Flügel der revolutionären Bewegung in Bayern. Am 7. April 1919 wurde vom Zentralrat der bayerischen Republik unter Ernst Niekisch und dem Revolutionären Arbeiterrat in München die bayerische Räterepublik ausgerufen. Ministerpräsident Hoffmann (MSPD) wurde für abgesetzt erklärt und wich mit seinem Kabinett nach Bamberg aus. In ihrer Führung war die Räterepublik zunächst von pazifistischen und anarchistischen Intellektuellen geprägt, später beteiligten sich auch führende KPD-Mitglieder.
Auch die Münchner Räterepublik hatte sich von Anfang an militärischer Angriffe der von Bamberg aus mobilisierten Freikorpsverbände zu erwehren, die wenig später von regulären, durch die Reichsregierung in Marsch gesetzten, Armee-Einheiten verstärkt wurden. Bis zum 2. Mai 1919 unterlag die Räterepublik schließlich deren militärischer Übermacht. Ihre führenden Protagonisten sowie mehr als 2000 – auch vermeintliche – Anhänger der Räterepublik wurden in den nachfolgenden Tagen und Wochen ermordet, von Standgerichten zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt.
Die Brutalität der Niederschlagung der revolutionären Bewegung machte deutlich, wie gefährlich diese aus der Sicht der politisch und wirtschaftlich Herrschenden eingeschätzt wurde. Eine besondere Rolle spielten dabei die Freikorps, die nach der Demobilisierung der regulären Armee als bewaffnete Verbände zur Sicherung der politischen Ordnung eingesetzt wurden. Dabei bediente sich die Reichsregierung dieser Einheiten ebenso wie ostelbische Junker, die revolutionäre Bauernunruhen verhindern wollten. Offiziell sicherten die Freikorps die Grenzen des Deutschen Reiches im Osten. Als zuverlässiger antikommunistischer Kampfverband kämpften Freikorps 1919 auch im Baltikum – mit zeitweiliger Unterstützung Großbritanniens – gegen die Truppen des revolutionären Russlands.
Freikorps und Reichswehr
Im Deutschen Reich taten sich die verschiedenen Freikorps-Verbände bei der bewaffneten Niederschlagung der revolutionären Bewegung hervor. Der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Morde im Kampf gegen die Berliner, Bremer und Bayerische Räterepublik waren beredte Beispiel dieser Verbrechen. Ungeachtet dessen verkündete die neue Reichsregierung am 6. März 1919 das »Gesetz über die Vorläufige Reichswehr«, wodurch auch die Freikorps nach und nach in die zu bildenden Brigaden der Reichswehr überführt wurden.
Dass diese Einheiten in keiner Weise als »republikanische Schutztruppe« anzusehen waren, zeigte der Kapp-Lüttwitz-Putsch am 13. März 1920. Wolfgang Kapp mit seiner »Nationalen Vereinigung« und General von Lüttwitz marschierten mit Freikorps-Einheiten und der Marinebrigade Ehrhardt nach Berlin. Damit versuchte die Reaktion noch einmal, den Weg einer parlamentarisch-demokratischen Entwicklung zurückzudrängen. Historische Aufnahmen der Putsch-Einheiten zeigen, dass diese ihre Helme und Fahrzeuge mit Hakenkreuzen »geschmückt« hatten – lange bevor die NSDAP dieses Symbol als Parteiabzeichen vereinnahmt hatte. Die sozialdemokratische Reichsregierung floh nach Stuttgart. Dennoch scheiterte der Putsch nach vier Tagen, weil ihn die einheitlich handelnde Arbeiterbewegung mit einem Generalstreik aushebelte. Die Reichswehr-Generalität hatte sich zuvor mit der Aussage »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« geweigert, gegen die Putschisten vorzugehen.
Die kämpfenden Arbeiter hatten jedoch nicht das Ziel, die Reichsregierung einfach wieder ins Amt zu holen, sondern sie forderten weitergehende politische Rechte und Formen direkter Demokratie. Doch das verhinderte die zurückgekehrte Reichsregierung – diesmal wieder gestützt auf die militärische Macht der Reichswehr und »freiwillige Einheiten«, wie das Studentenkommando Marburg (StuKoMa), das in Mechterstedt zahlreiche Morde an thüringischen Arbeitern verübte.
Das Scheitern der Putschisten führte auch zum formellen Ende der Freikorps. Die nicht in die Reichswehr übernommenen Verbände bildeten meist sogenannte Wehrverbände oder fanden ein Unterkommen bei paramilitärischen Verbänden, etwa beim Stahlhelm oder später der SA. Nachfolgegruppen der Freikorps waren auch in den Einwohnerwehren aktiv, kämpften etwa im Oberschlesien »Selbstschutz« als Irredenta-Bewegung und waren in der Frühzeit der Weimarer Republik für eine Reihe von politischen Morden verantwortlich. So ermordeten Mitglieder der aufgelösten Marine-Brigade Ehrhardt, die sich in der Organisation Consul formierten, am 26. August 1921 den ehemaligen Finanzminister Matthias Erzberger und am 24. Juni 1922 den amtierenden Reichsaußenminister Walther Rathenau als »Novemberverbrecher« – so die Diktion im Sinne der rechten »Dolchstoßlegende«, wonach Politiker der Heimatfront der siegreichen Armee in den Rücken gefallen seien.
Der »Hitler-Putsch« 1923
Fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik in Berlin, am 9. November 1923, glaubten die offenen Faschisten und Vertreter der kaiserlichen Reichswehr mit dem »Hitler-Ludendorff- Putsch«, noch einmal zum Todesstoß für die Republik ausholen zu können. Zwei Bedingungen schienen aus der Sicht der reaktionärsten Kräfte günstig zu sein. Die Hyperinflation 1923 im Gefolge des Ruhrkampfes hatte zu einer massiven Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt. Diese hatte – für eine verfehlte Politik der Reichsregierung – ihre gesamten Ersparnisse und auch alle Ansprüche auf die Kriegsanleihen aus dem Ersten Weltkrieg verloren. Von dieser Massenstimmung im Kleinbürgertum, das der große Verlierer der Inflation war, glaubten die Faschisten profitieren zu können.
Zum anderen lieferte die faschistische Bewegung in Italien unter Mussolini das Vorbild für einen reaktionären Krisenausweg. Nachdem die sozialistische Arbeiterbewegung in Italien in den »biennio rosso«, den zwei roten Jahren von 1919 bis 1920 mit Streiks, Massenaktionen und Betriebsbesetzungen die ökonomische Macht der Großunternehmen in Frage gestellt hatte, terrorisierte Mussolini in den »biennio nero«, den »zwei schwarzen Jahren«, mit seiner Straßenkampf-Truppen, den »Schwarzhemden«, die Arbeiterbewegung insbesondere in Norditalien, vertrieb im Interesse der Großgrundbesitzer Landbesetzer und verhinderte ein Übergreifen der revolutionären Bewegung in andere Landesteile. Mit dem »Marsch auf Rom« im Oktober 1922 machte er seinen Machtanspruch deutlich. Solchermaßen »qualifiziert«, war die Übertragung der politischen Macht an Mussolini nachvollziehbar.
Während aber in Italien Großunternehmer und Vertreter der politischen Elite die faschistische Straßenkampf-Truppe als hilfreich und notwendig zum eigenen Machterhalt ansahen, war im Deutschland des Jahres 1923 eine solche Notwendigkeit für einen faschistischen Krisenausweg nicht gegeben. Bei aller Sympathie für die extreme Rechte, der Machtanspruch der NSDAP entbehrte jeglicher Grundlage. Daher endete der »Marsch auf die Feldherrenhalle« in dem bekannten Fiasko. Selbst die reaktionären Kräfte in Bayern, die wenige Jahre zuvor die Räterepublik blutig niedergeschlagen hatten, sahen keine Notwendigkeit, der NSDAP und dem Reichswehrgeneral Ludendorff zu folgen.
Die Putschisten wurden verhaftet und Hitler zu mehrjähriger Festungshaft in Landsberg verurteilt. Doch in dieser Situation zeigte sich die Bayerische Regierung äußerst kulant. Die Festungshaft, die Hitler am 1. April 1924 antrat, war in jeder Hinsicht moderat, weniger eine Haftstrafe. Er war in einem separaten Gefängnistrakt untergebracht, konnte zahlreiche Besucher empfangen und den ersten Band von »Mein Kampf« verfassen. Bereits am 20. Dezember 1924 wurde er »auf Bewährung« entlassen.
Mit der Wiedergründung der NSDAP begann die Umdeutung des Putschversuches in eine heroische Niederlage und die Glorifizierung der dabei umgekommenen 16 Nationalsozialisten, die in der Folgezeit zu »Gefallenen« und »Opfern« für das Vaterland sowie »Blutzeugen der Bewegung« verklärt wurden. Ab 1925 wurden allen NS-Ortsgruppen verpflichtet, alljährlich am 9. November Gedenkfeiern abzuhalten, in die auch die Getöteten des Ersten Weltkrieges einbezogen werden mussten. Damit wurde suggeriert, dass die Putschisten im Grunde für dieselbe Sache gestorben seien wie die im Weltkrieg Gefallenen: für das Vaterland.
Anlässlich des zehnten Jahrestages des Putsches von 1923 stiftete Hitler den so genannten »Blutorden«, der allen damals Beteiligten verliehen wurde. Albert Reich fabulierte 1933 in einer offiziellen Broschüre der NSDAP von der »Entstehung der deutschen Freiheitsbewegung« vom 9. November 1918 bis 9. November 1923. Außerdem wurden die »Gedenkfeiern« ab 1933 als jährliche Totenfeiern für die »Blutopfer der Kampfzeit« inszeniert.
Zu diesem Zeitpunkt war die NSDAP bereits als Antwort der Herrschenden auf die politische und wirtschaftliche Krise zum Ende der Weimarer Republik als Regierung etabliert worden.
Während 1923 der faschistische Ausweg weder als notwendig noch tragfähig erachtet wurde, setzte sich bei den reaktionärsten Kräfte der Weimarer Zeit, den Ruhrmagnaten, den Unternehmern der Schwerindustrie und des Bergbaus, den Großbanken, den ostelbischen Junker und den Vertretern des Militarismus 1931/32 die Überzeugung durch, dass eine Machtbeteiligung der NSDAP und Hitlers angesichts der gescheiterten Brüningschen Krisenpolitik und einer erkennbaren Linksentwicklung in der Gesellschaft den gewünschten Ausweg zur politischen Machtsicherung bietet. Die verschiedenen zeitgenössischen Erklärungen und Eingaben an Reichspräsident Paul von Hindenburg zeigten das deutlich.
Anders jedoch als im Jahre 1919, wo das Militär und die reaktionärsten Kräfte vor allem mit brutaler militärischer Gewalt die Machtsicherung betrieben, sicherte das faschistische Regime seine Herrschaft neben der terroristischen Verfolgung aller politischen Gegner mit Hilfe von SA und Polizei zusätzlich mit den Ideologemen der »Volksgemeinschaft« und des Rassismus, speziell des Antisemitismus ab. Die »Volksgemeinschaft« schuf dabei einerseits die Möglichkeit der »Integration« aller Bürger durch Privilegierung und Alimentierung, andererseits lieferte sie die Basis zur Ausgrenzung aller Menschen, die nicht in das Ideal des faschistischen Staatsbürgers passten.
Die Novemberpogrome 1938
Zu dem Gegenbegriff der »Volksfeinde« zählten die politischen Gegner, Menschen mit religiösen Überzeugungen, Menschen mit abweichender sexueller Orientierung, aber auch »Gemeinschaftsfremde« wie Asoziale, Kleinkriminelle, selbst Obdachlose. Dieser Begriff bildete die Grundlage der Stigmatisierung, der Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung. Die Privilegierung der »Volksgemeinschaft« war durch eine behauptete »Höherwertigkeit« der arischen Rasse gegenüber rassisch »Minderwertigen« angelegt.
Und dies wurde am 9. November 1938, zwanzig Jahre nach dem Jahrestag der Novemberrevolution und fünfzehn Jahre nach dem missglückten Hitler-Ludendorff-Putsch, mit brutaler Gewalt unter Beweis gestellt. Nachdem bereits am 7. November 1938 in Hessen-Kassel die ersten Übergriffe gegen jüdische Menschen und ihre Einrichtungen als Reaktion auf die Vorgänge in Paris (Attentat von Herschel Grynszpan) durch Einheiten der SS und der NSDAP stattfanden, wurde die Führertagung am Nachmittag des 9.November 1938 in München zum Anlass genommen, in allen Teilen des Deutschen Reiches »Volkszorn« gegen jüdische Synagogen, Einrichtungen und Menschen zu inszenieren. Diese Inszenierung diente zum einen der Verstärkung antisemitischer Ressentiments, zum anderen zur Legitimierung der endgültigen Ausplünderung aller jüdischen Menschen durch Raub und Arisierung von Unternehmen und jüdischem Eigentum. Dieses vollzog man durch die Einziehung einer Kollektivstrafe in Höhe von 1,25 Mrd. Goldmark und durch die Verschleppung »vermögender« Juden in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Verschleppte konnten sich »freikaufen«, wenn sie Grundstücke und andere Eigentumsrechte auf die SS und den deutschen Staat übertrugen.
Dieser Raub war in den Augen der faschistischen Regierung dringend notwendig zur Finanzierung der Aufrüstungspolitik, die im Ansatz bereits die faschistische Volkswirtschaft gefährdete.
Außerdem diente die Aktivierung dieses antisemitischen Terrors auch der praktischen Einstimmung der deutschen Bevölkerung auf den kommenden Krieg, indem durch die Terrorisierung der jüdischen Menschen die »Arier« daran gewöhnt werden sollen, wie man als »Herrenmensch« mit »Minderwertigen« umgehen könne. Mit dieser Kriegsvorbereitung setzte die faschistische Herrschaft das um, was die NSDAP und Hitler ihren Unterstützern schon vor 1933 zugesagt hatten, nämlich die Ergebnisse des Versailler Vertrages im Interesse des deutschen Imperialismus grundlegend zu revidieren – ein Vertrag, den die »Novemberverbrecher« von 1918 unterzeichnet hatten.
Für Antifaschisten ergibt sich aus dieser Erfahrung die Notwendigkeit der geschichtlichen Erinnerung – nicht nur aus historischem Interesse, sondern im Sinne der Konsequenzen für heute:
Es begann mit dem Kampf der Arbeiterbewegung gegen den Krieg und für den Sturz der reaktionären wilhelminischen Herrschaft. Dabei ging es um mehr als den Wechsel der Regierungsform. Es ging auch um die Forderungen nach einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft.
Gegen diese Infragestellung der ökonomischen Grundlagen der Herrschaft des Kapitals setzten die reaktionärsten Kräfte der Gesellschaft alle verfügbaren Machtmittel ein – insbesondere das Militär und seine früheren Einheiten in Form von Freikorps. Politisch verhängnisvoll war die Tatsache, dass diese Machtsicherung in jeder Hinsicht mitverantwortet wurde durch die MSPD, die allein mit Blick auf eine Regierungsbeteiligung die Verbrechen der Reichswehr deckte.
Dass diese Reichswehr kein Garant für eine demokratische Entwicklung sein konnte, zeigten der Kapp-Putsch und sein Scheitern.
Jedoch waren die revolutionären Kräfte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu schwach, um eine grundlegende Wende herbeizuführen. Folgerichtig sahen die ökonomisch Mächtigen 1923 keine Notwendigkeit, einen faschistischen Ausweg aus der Krise als politischer Rollback der Ergebnisse der Novemberrevolution zu unterstützen. Der Hitler-Ludendorff-Putsch endete als Desaster.
Als reaktionärer Ausweg blieb aber die faschistische Option bestehen und wurde Anfang der 30er Jahre gezielt gefördert und am 30. Januar 1933 als Regierungsmacht eingesetzt.
Es dauerte jedoch noch sechs weitere Jahre, bis mit dem 9. November 1938 und den gewalttätigen Übergriffen in der Reichspogromnacht der entscheidende Schritt zur rassistischen Normierung und Einstimmung auf einen erneuten Kriegsgang zur Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges im Interesse des deutschen Imperialismus gemacht wurde.
Die Erinnerung an alle drei Ereignisse an diesem 9. November ist mit der klaren Botschaft verbunden: Faschismus war und ist eine mögliche reaktionäre Antwort auf die Infragestellung der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse in einer Gesellschaft durch eine starke linke Bewegung. Wenn es dieser linken Bewegung nicht gelingt, durch breiteste Bündnisse ihre gesellschaftliche Durchschlagkraft zu erhöhen, scheuen die reaktionärsten Kräfte weder vor Verbrechen, noch rassistischen Ausgrenzungen und Krieg zurück, um ihre Herrschaftsinteressen zu sichern.