Ein »Sohn der Pflicht«
31. Januar 2019
Zum Gedenken an Dr. Peter Kirchner
Am 9. Dezember 2018 verstarb das langjährige Mitglied des Vorstandes der Berliner VVN-BdA, Dr. Peter Kirchner. Er wurde am 20. Februar 1935 im jüdischen Krankenhaus in Berlin geboren, war seit dieser Zeit Gemeindemitglied und musste bereits als Kind, in der dunkelsten Zeit deutscher Geschichte, den gelben Stern tragen und durfte nur noch auf dem Jüdischen Friedhof spielen. Er entging gerade noch der Deportation und überlebte ab 1943 mit seiner Mutter zwei Jahre versteckt auf dem Lande. 1945 wurde der zehnjährige Junge von der Roten Armee befreit. Obwohl er während der Nazizeit nur ein Jahr zur jüdischen Schule gehen konnte, begann er sogleich in der 6. Klasse im Nachkriegs-Ostberlin, machte Abitur und studierte an der Charité Medizin. Er wurde Dr. med., Assistent am Anatomischen Institut, begann eine chirurgische Ausbildung, wechselte dann zur Neurologie und Psychiatrie und war bis zu seinem 50. Lebensjahr Oberarzt. Anschließend arbeitete er 15 Jahre als ärztlicher Gutachter.
1958 lernte er seine zukünftige Frau Renate kennen, die sich damals noch in der Ausbildung zur Bibliothekarin befand. Sie blieben, seit 1962 verheiratet, schließlich 60 Jahre auf das Engste verbunden. Auch seine Frau wusste um die seelischen Verletzungen, die ihnen die Nazizeit zugefügt hatte, galt ihre Mutter doch nach NS-Terminologie als »Mischling«.
1966 wurde ihr Sohn Gerrit geboren, der schließlich gleichfalls Medizin studierte und Nervenarzt wurde. Nach Gerrits Heirat wurden beide 2001 Großeltern, Enkeltochter Zahavah bestand in diesem Jahr, mit nur 16 Jahren, ihr Abitur.
Peters herausragende Lebensleistung war, neben seinem verantwortungsvollen medizinischen Beruf, die Übernahme des ehrenamtlichen Gemeindevorsitzes der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin. Er übte dieses Amt von 1971-1991 aus. Wie sich herausstellte, ein Glücksfall für das dadurch wiederbelebte jüdische Leben in Ostberlin. Obwohl ihn, wie sein Sohn Gerrit in seiner einfühlsamen Trauerrede sagte, nicht unbedingt eine »herzliche Verbindung … mit der ritualisierten Form des Judentums« verband, fühlte er sich doch, seit seiner Bar Mitzwah 1948, als »Sohn der Pflicht« und blieb seinem praktischen Mitzwah-Judentum der »guten Taten«, auch in seinem streitbaren, aber immer diplomatischen Verantwortungsbewusstsein, auf das Innigste verbunden. Schon ab den 60er Jahren übernahm er, als chirurgisch Geschulter, die Beschneidung der neugeborenen jüdischen Jungen.
Als 1971 der Gemeindevorsitzende Heinz Schenk verstarb und Peter sein Amt übernahm, gab es in Ostberlin neben Gottesdiensten in der Synagoge Rykestraße, die gleich nach 1945 aus einem ausgemisteten Pferdestall wieder restauriert und eröffnet wurde, bald eine koschere Fleischerei, einen Chanukaball, ein jüdisches Altersheim und Synagogenkonzerte. Peter sorgte mit seinen Gemeindevertretern auch dafür, dass regelmäßig öffentliche Kulturveranstaltungen in der Oranienburger Straße 28 stattfanden, zu denen namhafte jüdische Persönlichkeiten aus dem Ausland, aber gerade auch DDR-kritische Autoren, wie Heym, Becker oder Kunert eingeladen wurden. Er hielt jeden Dienstag eine öffentliche Sprechstunde ab und trug Sorge dafür, dass das »Nachrichtenblatt« der jüdischen Gemeinden gehaltvoller wurde. Es gelang ihm, extra staatliche Gemeindezuwendungen zu erhalten, die keine andere Religionsgemeinschaft erhielt.
Ende der 80er Jahre wurde die jüdische Gruppe »Wir für uns« gegründet, die für Jugendliche aus säkularen jüdischen Familien offen war und aus der nach 1989 der rege »Jüdische Kulturverein« hervorging. Drei außergewöhnliche Initiativen hingen mit dem diplomatischen Einsatz von Peter zusammen: Schon zu Kaisers Zeiten wurde eine Berliner Ausfahrtstraße durch den Jüdischen Friedhof in Weißensee geplant, die erst Ende der 70er Jahre auf dem dafür vorgesehenen Streifen, auf dem zuvor niemand begraben wurde, realisiert werden sollte. Peter gelang es, zusammen mit Heinz Galinsky, auch durch Intervention bei Honecker, diesen Irrsinn zu verhindern. Er erhob zugleich Einspruch gegen die einseitige Berichterstattung der DDR-Presse über Israel und bekämpfte, zusammen mit Pfarrer Hildebrandt, u. a. im christlich-jüdischen Dialog, zunehmende antisemitische Alltagstendenzen. Schließlich setzte er sich gegen den Abriss der Synagogenruine Oranienburger Straße und – erfolgreich – für ihren Wiederaufbau ein und leitete dafür zeitweilig die Stiftung »Centrum Judaicum«. Diese wunderbare Restaurierung wird also ewig auch mit seinem Namen verbunden bleiben.
Es ist eine Schande und Geschichtslüge wenn, aus Unkenntnis oder Kalkül, nach 1990 nicht nur Peter, sondern viele Juden aus der DDR, undifferenziert als »staatsnah« diffamiert wurden. Ihre Persönlichkeiten und Lebensleistungen wurden dadurch skandalös herabgewürdigt. Peter Kirchner hat, wie Gerrit sagte, »leise, ehrenhaft, vollkommen uneitel und nicht geehrt … trotzdem immer innere Stärke … in Liebe verwandelt«. Sein Lebenslicht wird nicht nur für seine Familie stets in warmherziger Erinnerung bleiben.