»Judenfrei« vorhergesehen

geschrieben von Jürgen Brüggemann

7. April 2019

Stummfilm-Schreckensvision aus dem Wien der 20er Jahre

Wien 1922 – Antisemitische Parolen im Jargon des »Stürmer«, Angriffe auf jüdische Händler, Demonstrationen gegen die »zionistischen Schuldigen« für Inflation und Hunger, schließlich die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt. Dies sind Szenen aus einem dystopischen Roman von Hugo Bettauer. Bettauer wählte den Titel »Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen«.

Unter der Regie von Hans Karl Breslauer wurde der Roman verfilmt und am 25. Juli 1924 in Wien uraufgeführt. Der Film war zunächst zum Missfallen rechter Kreise ein großer Erfolg. Die Privatadresse des Autors wurde in einer Zeitung veröffentlicht, und dazu erklärt, dass -solch ein Mensch kein Mitglied der Gesellschaft sein solle, so Nikolaus Wostry vom Filmarchiv Austria gegenüber BBC. Nur wenige Monate danach wurde Bettauer von dem österreichischen Nazi Otto Roth-stock erschossen. Rothstock wurde nach einem grotesken Prozess in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und zwei Jahre später entlassen.

Die Hauptrollen in diesem Stummfilm spielten Johannes Riemann, Eugen Neufeld, Hans Moser, und Anna Milety. Die Filmemacher verfremdeten den Ort der Handlung und ließen ihn in Utopia spielen. Allerdings lassen die Architektur und das öffentliche Leben keine Zweifel daran; das Grauen spielt sich in Wien ab.

Die Stadt ohne Juden

Die Stadt ohne Juden

Die Handlung des Films erreicht ihren Höhepunkt in den Szenen der Vertreibung. Menschen verlassen resignierend ihre Häuser, Kinder weinen um ihr zurückgelassenes Spielzeug, Rabbiner tragen mit gespieltem Gleichmut die Thorarollen aus den Synagogen, Freunde werden getrennt und Familien werden zerrissen. Der Film zeigt, was sich dann tatsächlich bis vor Beginn des Massenmordes an den europäischen Juden abgespielt hat. Bis zu dieser furchtbaren Konsequenz reichte die Vorstellungskraft von Autor und Regisseur nicht. Sie lassen gar einen der Vertriebenen sagen: »In Deutschland könnte so etwas nicht passieren, die Deutschen sind vernünftig.«

Die Handlung endet versöhnlich. Zunächst herrschte nach vollendeter Vertreibung Euphorie. Aber schnell heizte die Inflation wieder an, das soziale und kulturelle Leben der Stadt verarmte. Nachdem ausländische Kredite und Warenlieferungen ausblieben, mussten viele Geschäfte schließen. Die Armut breitete sich weiter aus und für die städtische Oberschicht verschwand die elegante Mode aus den Geschäften. Selbst die üppigen Konditoreien machten Bierhallen Platz. Das Pendel der öffentlichen Meinung schlug zurück, die Mehrheit der Stadtbevölkerung verlangte die Rückkehr ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ein politischer Coup, mit reichlich Stummfilmslapstick vorgeführt, führte schließlich die erforderliche Verfassungsänderung herbei.

Dieses filmische Happy End kann natürlich in Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs der Geschichte Kritik hervorrufen. Vergessen wir aber nicht, das Buch wurde 1922 veröffentlicht und der Film 1924 aufgeführt. Niemand konnte aber in dieser Zeit ahnen, wohin der damals schon verbreitete Antisemitismus führen würde und welches verbrecherische Ausmaß dessen politische Praxis annehmen kann. Buch und Film haben aber für ihre Zeit erstaunlich klar den Charakter der antisemitischen Stereotype und Klischees aufgezeigt. Sie haben deutlich gemacht, wozu Menschen fähig sein können, wenn sie ideologischen Rattenfängern nachlaufen und die politischen Machthaber dem vermeintlichen »Volkswillen« folgen.

Es ist deshalb verdienstvoll, dass dieser lange verschollene Film dem Vergessen entrissen wurde. 2015 stieß ein Sammler zufällig auf einem Flohmarkt in Paris auf eine vollständige Version in hinreichend guter Qualität. Eine Crowdfunding-Kampagne durch das Filmarchiv Austria ermöglichte die Finanzierung einer aufwendigen Restaurierung und Digitalisierung des Films. Die Untertitelung für den Film wurde neu geschaffen und eigens die begleitende Musik komponiert. Der Erstaufführung der restaurierten Fassung fand am 21. März 2018 in Wien statt. Der Film kann als DVD erworben werden.