Unbeugsames Gedenken

geschrieben von Jürgen Weber

7. April 2019

Von der Küstenstraße zwischen Málaga und Almería

Das Mädchen auf dem Foto ist keine fünf Jahre alt. Unterm Arm geklemmt hält es eine nackte schwarze Puppe. Ein längeres und ein kürzeres Bein baumeln zu Boden. Das Kind trägt ein helles dünnes Kleid. Das Foto entstand Anfang Februar 1937 auf der Küstenstraße N340 zwischen den andalusischen Städten Málaga und Almería.

Auf einem der nächsten Fotos, die mir vorgelegt werden, liegt die schwarze Puppe auf dem staubigen Boden und das Mädchen kaut auf einem Stück Zuckerrohr vom Wegrand. Auf weiteren Fotos sind andere Kinder, die sich an den Händen halten, eine Mutter mit Säugling im Arm, die am Weg ihr Baby stillt und alte Menschen – eine stützt sich beim Gehen auf einen Ast, ein anderer sitzt auf einem Esel. Flüchtlingskolonnen, die kaum Hab und Gut mit sich führen. Die Menschen kamen aus Málaga oder flohen aus anderen Teilen Andalusiens in Richtung Almería. Dorthin, wo die Republik sie noch schützen konnte. Dass sie hier auf der schmalen Küstenstraße zwischen kahlen, kaum bewachsenen Bergen und der steilen Felsküste in der Falle saßen, konnte sich zum Zeitpunkt dieser Fotoaufnahmen noch niemand vorstellen.

»Desbandá« bedeutet so viel wie »überstürzte Flucht« und ist der stehende Begriff für ein bislang wenig bekanntes Massaker an der Zivilbevölkerung, welches die Truppen der damaligen Führer des europäischen Faschismus, General Francisco Franco, Benito Mussolini und Adolf Hitler, im Februar 1937 gemeinsam begangen haben. 

Auf der Küstenstraße waren binnen weniger Tage zwei bis dreimal so viele Opfer zu beklagen wie durch den Luftangriff auf die baskische Stadt Guernica, welcher durch das gleichnamige Gemälde des spanischen Malers Pablo Picasso bekannt wurde. In Guernica wurden einige Wochen später, am 26. April 1937, durch italienische Kampfflieger und Flugzeuge der deutschen Legion Condor mehrere Hundert Einwohnerinnen und Einwohner getötet.

Das faschistische Italien und das deutsche NS-Regime unterstützten von 1936 bis 1939 den Putsch und Krieg des spanischen Generals Francisco Franco gegen die demokratisch gewählte Regierung der Zweiten Spanischen Republik. Die Franco-Diktatur in Spanien, der sogenannte Franquismus, wurde erst nach dem Tod Francos mit den freien Wahlen von 1977 beendet.

Foto: Gedenken am Leuchtturm von Torre del Mar. Foto: Jürgen Weber

Foto: Gedenken am Leuchtturm von Torre del Mar. Foto: Jürgen Weber

Vom Wanderverein »Club Senderista La Desbandá«, der vom 7. bis 16. Februar 2019 einen Gedenkmarsch organisierte, war ich eingeladen und habe die Wandernden die ersten Tage begleitet. Viele der rund einhundert Teilnehmenden waren Angehörige von Opfern aus der Enkelgeneration. Zur Wanderung kamen viele aus unterschiedlichen Regionen Andalusiens, andere waren aus Madrid oder dem Baskenland angereist.

Ich traf im soziokulturellen Zentrum »La Nave« in einem westlich des Zentrums von Málaga gelegenen Wohngebiet auf die Gruppe. Unweit von hier findet sich auf dem Gelände des ehemaligen San Rafael Friedhofs das Gedenkmal für die Opfer der Franco-Diktatur. Politische Gegner Francos wurden meist ohne Gerichtsverfahren verhaftet und erschossen oder sie verschwanden und gelten bis heute als vermisst. Allein in Málaga geht die Anzahl der so Liquidierten in die Tausende.

Während im Rest Europas mit Ende des Zweiten Weltkriegs auch der Schrecken faschistischer Herrschaft zerschlagen wurde, ging auf der iberischen Halbinsel das Martyrium für die politisch Andersdenkenden noch Jahrzehnte weiter.  Eine Präsentation im soziokulturellen Zentrum zeigt Verstecke in den südlichen Ausläufern der Sierra Nevada, in denen sich Verfolgte des Franco-Regimes bis in die 1970er Jahre verborgen hielten. Menschen, die sich bis 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Erdhöhlen verstecken mussten und von Angehörigen versorgt wurden.

José Manuel Luque, Geschäftsführer des »Club Senderista La Desbandá«, erklärt mir, dass die Menschen, die Widerstand geleistet haben, bis heute in Spanien nicht rehabilitiert sind. Alle Unrechtsurteile hätten noch Bestand, so Luque. Selbst Todesurteile aus dem Franquismus hätten heute noch ihre Gültigkeit. »Stell Dir das mal vor!«, hebt der Organisator des Marsches beide Hände in die Höhe. »Es wurde offiziell auch nie gesagt, was im Franquismus gemacht wurde, war falsch!«, so José Manuel Luque. »Genau das ist ein Ziel unseres Marsches: die Anerkennung des Unrechts!«. Was ihn besonders schmerze, sei die Tatsache, dass die Herrschaft Francos in den spanischen Schulen als ganz normale Epoche der spanischen Geschichte gelehrt wird. Nicht als die einer verbrecherischen Diktatur. Im Gegenteil: Makellos. Eine große Lüge in den Schulen und in den Universitäten, so José Manuel Luque.

Gegen diese Lüge setzen die Organisatoren den Marsch, der an der Kathedrale im Zentrum Málagas, gut hundert Meter vom Mittelmeerhafen entfernt, startete. In den ersten Minuten sogar von politischer Prominenz der Linken Spaniens begleitet. Von der Podemos war der Europaabgeordnete Miguel Urbán Crespo anwesend und die Izquierda Unida (IU), die Vereinigte Linke, schickte sogar ihren Parteivorsitzenden, Alberto Garzón, zum Auftakt. Von Málaga aus wanderte die Gruppe in zehn Tagesetappen von je rund 20 Kilometern nach Almería. Dem Ziel der Flüchtlinge vom Februar 1937.

Während die rechten Putschisten damals schon Landstriche im Nordwesten Spaniens unter ihre militärische Kontrolle gebracht hatten, verlegte General Franco mit Hilfe der deutschen Luftwaffe Truppen von der damaligen spanischen Kolonie Marokko nach Andalusien. Von Cádiz und Sevilla aus rückte Franco mit Hilfe italienischer Panzerverbände schnell Richtung Osten vor. Der Ankündigung Francos von Mord, Totschlag und Vergewaltigungen ließen die Putschisten und ihre Verbündeten auf ihrem Vormarsch, beispielsweise in Ronda, schnell Taten folgen.

Eine spontane Massenflucht – La Desbandá – war die Folge und allein Málaga beherbergte rund 150.000 Flüchtlinge. Als Franco dann am 8. Februar 1937 Málaga selbst bombardierte und schließlich einnahm, flohen abermals Zehntausende aus der Stadt Richtung Almería. Doch auch den schutzlosen Flüchtlingstreck auf der Küstenstraße nahmen Francos Kriegsschiffe sowie Bomber und Jagdflieger der deutschen Legion Condor immer wieder unter Beschuss. Tausende kamen ums Leben. Bis heute sind viele lediglich in Massengräbern am Straßenrand verscharrt.

Nach einer Veranstaltung in Vélez-Málaga fasst es der Schriftsteller Marcos G. Sedano aus Granada mir gegenüber so zusammen: »Während die Militärs und Franquisten in Ehrengräbern und Kathedralen mit allen Ehren beigesetzt sind, liegen unsere Toten noch immer in den Straßengräben«.

Schriftsteller Sedano und Organisator Luque sind sich dabei einig: »Der Marsch soll zeigen, dass wir da sind, dass es uns gibt.« Deutschland, Italien und das spanische Königshaus sollen anerkennen, dass es diese Verbrechen gegeben hat und sich dafür entschuldigen, so Luque. Das sei bis heute nicht geschehen und sei eine Schande, auch für Deutschland.

Die deutsche Legion Condor hatte sich in diesen Tagen im Februar 1937 vor allem am Beschuss der Flüchtlinge auf der Küstenstraße aus der Luft und der Bombardierung Almerías beteiligt. Das Ersuchen der spanischen Rechtsputschisten kam Hitler-Deutschland 1936 in Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg gerade recht. Wie aus Protokollen zum Nürnberger Kriegsverbrechertribunal von 1946 hervorgeht, sollte die eigene Luftwaffe in Spanien »geschult« werden. Mit der Legion Condor sollten neue Brand- und Sprengbomben, Messerschmitt-Jäger und Heinkel-Bomber getestet werden.

Foto: Start Desbandá in Málaga. Foto: Jürgen Weber

Foto: Start Desbandá in Málaga. Foto: Jürgen Weber

Von unterschiedlichen Angriffen mit Maschinengewehren und Schussverletzungen von tieffliegenden Jägern sowie Verletzungen durch Bomben berichtete in seinen Aufzeichnungen auch der kanadische Chirurg Norman Bethune. Der Arzt war Freiwilliger auf Seiten der regulären republikanischen Truppen Spaniens und hatte einen mobilen Bluttransfusionsdienst eingerichtet. Er half verletzten Flüchtlingen bei den Angriffen und rettete vielen von ihnen das Leben.

Der Arzt Norman Bethune spielt im Gedenken an das Massaker eine herausragende Rolle. In Torre del Mar und in Almería gibt es Denkmäler, die an ihn und sein Wirken erinnern. Einen Abschnitt der Küstenstraße haben die gedenkenden Gruppen nach ihm benannt.

Der Marsch machte in Torre del Mar nahe der Küstenstraße östlich des Stadtzentrums an der Plaza Norman Bethune und am Denkmal Station. Eine weitere war der alte Leuchtturm des Badeortes Torre del Mar. Heute inmitten von Hochhäusern einer küstennahen Wohnbebauung am westlichen Ortsende zu finden. Der Leuchtturmwärter Anselmo Vilar rettete Hunderten von Menschen dadurch das Leben, dass er das Licht seines Leuchtturms löschte. Damit war es den Flugzeugen unmöglich, sich zu orientieren und Angriffe gegen die Flüchtlinge auf der Küstenstraße zu fliegen. Der Gedenkmarsch machte auf einer Etappe Station am Leuchtturm, an dem heute eine kleine Gedenkstätte eingerichtet ist.  Seine Zivilcourage bezahlte der Leuchtturmwächter mit dem Leben. Einige Tage nach Einmarsch der Nationaltruppen Francos in Torre del Mar, wurde er erschossen.

An allen Zielen der Tagesetappen veranstaltete der »Club Senderista La Desbandá« öffentliche Lesungen, Diskussionsrunden oder Konzerte. Tagsüber erwanderten sich die Teilnehmenden im jeweiligen Tempo als langgezogener Zug Ort um Ort entlang der Küstenstraße. Mittags wurde mitten an Straße und Meer gekocht, gemeinsam gegessen und getrunken. Dann ging es wieder in aller Ruhe weiter. Oft ragte nur eine republikanische Flagge oder ein Transparent zwischen karger Stein- und Felslandschaft aus den kleinen Staubfahnen der Gehenden empor. Ein unwirklicher Zug vor atemberaubenden Blicken über das Meer. Umso unfassbarer, welche Blutspur der europäische Faschismus hier bereits vor dem »großen Krieg« anrichten durfte und das ohne Widerstand des demokratischen Europas. England und Frankreich hielten still, bis sie selbst von dieser Bestie angegriffen wurden. Einzig Interbrigadisten kamen der gewählten Republik zur Hilfe.

Genau diese Frage nach dem europäischen Widerstand stellt sich der Schriftsteller Marcos G. Sedano auch in Bezug auf heute. Überall in Europa würden sie nun wieder aus ihren Löchern kriechen. Für die Anerkennung der Verbrechen zu kämpfen, ist ein Weg, um gegen die nationale Rechte in Europa zu kämpfen. Nur so würden die Verbrechen und die Verbrecher sichtbar.

Mit dem dritten »Marcha de la Desbandá« haben die rund 40 unterstützenden Gruppen eine feste Institution und einen dauerhaften Stachel im Fleisch des Franquismus geschaffen. Auf dem Transparent an der Spitze des Marsches ist zu lesen: »Sie haben unsere Leben vernichtet, unser Gedenken werden sie nicht brechen«.

Im kommenden Jahr soll die Wandergruppe international werden. Gruppen aus Portugal und Frankreich haben sich schon angekündigt. Auch eine Delegation der VVN-BdA der Kreisvereinigung Konstanz will teilnehmen. Bei Interesse melden unter
vvn-konstanz@posteo.de