»Der Mensch ist gut«
20. Mai 2019
Erinnerung an meine Oma, Ilse Hunger
Meine Großeltern, Ilse und Willi Hunger, waren aktiv im Widerstand gegen den deutschen Faschismus in Leipzig. Ilse bekam 1929 Kontakt zum »Bund freier Menschen«, in dem sie Willi kennenlernte. Beide beteiligten sich immer stärker an politischer Arbeit. Sie blieben jedoch parteilos. 1938 lernten sie an den Lübschützer Teichen bei Leipzig, Kurt Gittel, einen Vertreter des KJVD, kennen. Dessen illegaler Gruppe, die Aufrufe, Flugblätter und Schriften herstellte und unter Arbeitern agitierte, schlossen sie sich an. Ilse war gelernte Stenotypistin. Zu ihren Aufgaben zählten u.a. das Schreiben und Verteilen von Flugblättern sowie das Kleben von Losungen gegen die Nazis.
Am 25. Juni 1941 verhaftete die Gestapo zuerst Kurt Gittel und am 17. Juli Ilse und Willi. Es wurde belastendes Material bei einem Berliner Kontakt von Kurt Gittel gefunden und die Spur bis Leipzig zurück verfolgt. Die Gruppe wurde im Januar 1942 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verurteilt, wobei Kurt Gittel im Prozess die Hauptschuld auf sich nahm. Ilse und Willi erhielten eine einjährige Haftstrafe, Ilse im Frauengefängnis in Leipzig-Meusdorf, Willi in Berlin Moabit. Nach Verbüßung wurde Ilse jedoch nicht entlassen, sondern in das Frauen-KZ Ravensbrück zur »Schutzhaft« überstellt. Willi wurde am Tag seiner Entlassung in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Von dort brachte die SS ihn Ende 1942 in das KZ Mauthausen, in das Außenlager Gusen. Zeitweilig wurde er zur Zwangsarbeit nach Auschwitz-Monowitz geschickt.
Am 11. August 1942 registrierte die SS Ilse als politischen Häftling mit der Nummer 12 991 im KZ Ravensbrück. Sie erhielt den roten Winkel auf ihrer Häftlingskleidung und musste schwere körperliche Arbeit in der Kolonne Luftmunitionshauptanstalt Fürstenberg leisten. Mit Unterstützung von Rita Sprengel und den ›Politischen‹ überlebte sie. Kurze Zeit darauf wurden beide vom Zugangsblock in den Block 1, den Block der ›Politischen‹, überstellt. Bedingt durch ihre Fähigkeit als Stenotypistin musste Ilse von 1943 bis 29. April 1945 im »Arbeitseinsatz«- Büro für die SS u.a. Listen mit arbeitsfähigen Häftlingen ausfüllen. Das Besondere an dieser Arbeit war, dass Ilse und Anni Hand (Wien) verschiedenen Frauen das Leben retten konnten, indem sie Häftlingsnummern auf Transportlisten fälschten, und dabei Nummern bereits toter Häftlinge verwendeten. Mein Onkel Werner erzählte: »Der Spruch meiner Mutter, der mich als Jugendlicher immer wieder verwundert hat, lautete »Werner, der Mensch ist gut«. Ich kann ihn mir nur so erklären: bleibende Erinnerungen meiner Mutter an die KZ-Zeit waren nicht die Unmenschlichkeiten, die die SS und die Aufseherinnen an den Häftlingen verübten, sondern die Solidarität unter Häftlingen, die auch ihr Überleben ermöglichte und die sie in ihrer Stellung beim »Arbeitseinsatz« selbst leisten konnte.«
Als die Rote Armee nahte, schickte die SS die Frauen aus dem KZ auf den sogenannten Todesmarsch. Gemeinsam mit Erika Buchmann und Nadja, einer jugoslawischen Antifaschistin, gelang es Ilse zu fliehen und die Befreiung am 1. Mai 1945 durch die Rote Armee auf der Flucht zu erleben. Sie kehrte ins Lager zurück, um die kranken und schwachen Kameradinnen in Ravensbrück zu pflegen.
Ende April 1945 kehrte Willi nach Leipzig zurück, Ilse kam erst Ende Juni zurück nach Leipzig, das inzwischen zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Beide hatten überlebt. Mit Sohn Werner (1940) und später mit Sohn Hans (1950) begann nun ihr Familienleben. Gleichzeitig engagierten sich Ilse und Willi beim Aufbau der DDR sowie bei der Aufarbeitung des deutschen Faschismus im Sinne der DDR.
Ich kann mich nicht genau erinnern, wann mir bewusst wurde, dass Oma in der Nazizeit im KZ war, vermutlich erst nach ihrem Tode 1989. Ich war neun Jahre alt, ein Alter, in dem meine Eltern mir dieses Thema langsam vermitteln konnten. Meine Erinnerungen aus dieser Zeit haben nichts mit ihrer politischen Vergangenheit zu tun. Wenn ich meine Postkarten sowie die Fotos von ihr betrachte, erinnere ich mich an ihre Liebe, Wärme und Güte zu uns Enkelkindern, aber auch an eine gewisse Strenge. Bewusst wird mir in solchen Momenten, dass ich sie sehr vermisse, einmal als Großmutter, aber auch als Überlebende des deutschen Faschismus. In den letzten zehn Jahren habe ich angefangen, mich intensiver in der politisch-historischen Bildungsarbeit einzubringen. Es gäbe so viele Fragen an sie.
Francis, mein Bruder, sagte mir, dass für ihn »die Auseinandersetzung mit Ilses Lebenslauf insofern prägend ist, als sie es ermöglicht, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in vielerlei Aspekten zu verstehen. Wobei dieses Verstehen nicht allein als Analyse, sondern letztlich auch als praktisches Vorbild dienen soll.«