Ein ungesühntes Verbrechen

geschrieben von Claudia Wörmann-Adam

20. Mai 2019

Vor 75 Jahren verübte die SS das Massaker in Oradour-sur-Glane

Anfang der 1980er Jahre war ich zum ersten Mal in Oradour-sur-Glane, einem kleinen Ort unweit von Limoges im Südwesten Frankreichs. Letzten Herbst besuchte ich ihn nach über 35 Jahren wieder.

Oradour steht für das zahlenmäßig größte Massaker der Nazis an der Zivilbevölkerung in Westeuropa. Am 10. Juni 1944 umstellte die SS den Ort, als Rache für Widerstandsaktionen in der Gegend, an der aber nachweislich kein Einwohner von Oradour beteiligt war. Man trennte die Männer von den Frauen und Kindern; teilte sie in mehrere Gruppen auf. Auf ein Signal hin begannen die SS-Leute auf die Männer zu schießen bis sich nichts mehr bewegte. Danach bedeckten sie seelenruhig die Leichen mit allem, was brennbar ist und zündeten sie an. Die Sterbenden und Verletzten wurden bei lebendigem Leib verbrannt. 161 Männer starben, nur fünf konnten sich retten.

Die Frauen und Kinder waren in der Kirche des Ortes eingesperrt worden; sie hörten die Maschinengewehre und ahnten, dass draußen ihre Männer, Väter und Söhne umgebracht wurden. Nach Stunden der Ungewissheit und Angst öffnete sich die Tür der Kirche, zwei SS-Männer traten ein und schlossen die Tür wieder ab; sie gingen in die Nähe des Altars, stellten dort eine große Kiste auf, aus der Zündschnüre hervorkamen; diese zündeten sie an und verließen die Kirche wieder. Es folgt eine Explosion, ätzender, erstickender Qualm. Die gefangenen Frauen und Kinder versuchten in Panik zu fliehen, unmöglich, die SS schoss durch alle Fenster.

Dann öffneten die Nazis die Kirchentüren und schossen wahllos in den Qualm bis die Munition zu Ende ging. Danach zündeten sie die Kirche an, der Kirchturm wurde gesprengt, Handgranaten geworfen. Es verbrannten 260 Kinder und Jugendliche und 221 Frauen; nur eine Frau konnte fliehen.

Um eine Identifizierung ihrer Opfer zu erschweren, wurden die verkohlten Leichen von den Nazis nachträglich noch bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und teilweise verscharrt. Nur 52 Opfer konnten später identifiziert werden. Eine Leichenbestattung in Einzelgräbern konnte daher auch nach der Befreiung nicht stattfinden. Die Trauerarbeit gestaltete sich dadurch noch schwieriger. Der ganze Ort wurde bis auf zwei Häuser niedergebrannt aber: »Die ganze Nacht hatten die Deutschen getafelt, gezecht und gesungen… Der Ort war wohlhabend, es gab gute Weinkeller in zahlreichen Häusern. Erst am Morgen, nachdem sie zwei weitere Häuser in Brand gesteckt hatten, die noch standen, und die wahrscheinlich der Schauplatz ihrer Ausschweifungen waren, verlassen die Mörder den Tatort.« (Augenzeugenbericht) Insgesamt wurden 642 Menschen Opfer der Nazibarbarei.

123 Häuser, 26 Werkstätten, 35 Garagen, 40 Scheunen, 22 Geschäfte, 4 Schulen, 1 Bahnhof wurden zerstört, Soweit in aller Kürze die Geschichte des Massakers von1944.

Die sterblichen Überreste der Bewohner, soweit sie nicht identifiziert werden konnten, wurden in einem gemeinsamen Grab bestattet. Die niedergebrannten Ruinen des alten Städtchens blieben so stehen, wie die Nazis es verlassen hatten. Oradour wurde zum »Märtyrerdorf« ernannt. Ein Neubau des Ortes erfolgte unweit des Ruinendorfs. Nach der Befreiung gab es große politische und künstlerische Unterstützung bzw. Solidarität mit den verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohnern von Oradour.

Charles de Gaulle besuchte den Ort. Pablo Picasso und Fernand Léger malten Bilder; Louis Aragón schrieb ein Gedicht für Oradour.

Dann folgte das schicksalhafte Jahr 1953. In Bordeaux fand der Prozess gegen einige der Täter, derer man habhaft werden konnte, statt, gegen 21 von geschätzt 200 beteiligte SS Soldaten. Von den 21 waren 14 Elsässer; diese verstanden sich als »Zwangsrekrutierte« und beriefen sich darauf, selbst »Opfer« gewesen zu sein.

Zwei der Angeklagten wurden zum Tode, die übrigen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nur wenige Tage nach dem Urteil protestierten fast alle Elsässer Bürgermeister gegen die Verurteilung der Elsässer. Kurze Zeit später wurde seitens der französischen Regierung eine Amnestie erlassen aus Sorge vor einer möglichen elsässischen Autonomiebewegung; d.h. keine Strafe wurde vollstreckt.

Für die Hinterbliebenen von Oradour riss das alle Wunden wieder auf. Der Ort gab dem Staat das Kreuz der Ehrenlegion und das Kreuz des Krieges zurück, die ihm einige Jahre zuvor verliehen worden waren. In den Folgejahren fanden die Gedenkveranstaltungen für die Opfer auf ausdrücklichen Wunsch und Beschluss der Hinterbliebenen und der Gemeinde unter Ausschluss der staatlichen Behörden und ihrer offiziellen Vertreter statt.

Als ich 1982 nach Oradour kam, war der alte Ort noch so, wie ihn die Nazis hinterlassen hatten: ausgebrannte Kinderwagen, Fahrräder, Puppenwagen und Autos standen bzw. lagen auf den Straßen, verbrannte Möbel, Nähmaschinen und Hausrat aller Art lagen in den Trümmern der Häuser. Ein gespenstisches, tief bewegendes Bild.

Auf dem Friedhof, dem einzigen erhaltenen Teil des alten Städtchens, der auch bis heute als solcher genutzt wird, finden sich auf praktisch jedem Grab Inschriften und Erinnerungsbilder an die ermordeten Angehörigen. Am Ende des Friedhofs befindet sich eine große Tafel mit den Namen aller Opfer sowie viele persönliche Gedenktafeln und weitere von Organisationen der von den Nazis Verfolgten und von Widerstandskämpfern.

1982, als ich in Oradour war, war kurze Zeit vorher in der DDR ein Tatbeteiligter, Heinz Barth, festgenommen worden und später zu lebenslänglich verurteilt worden. In der Bundesrepublik wurde nicht ein einziger Täter vor Gericht gestellt. Heinz Lammerding z. B. war als Chef der SS-Division »Das Reich« ein Hauptverantwortlicher, er lebte später unbehelligt als Bauunternehmer in Düsseldorf und wie ihm erging es allen anderen Tätern.

Erst Ende der 80er/Anfang der 90er-Jahre begann ein mühsamer Dialog zwischen den Hinterbliebenen auf der einen Seite, sowie Forschern, Historikern und staatlichen Vertretern auf der anderen Seite, um die Frage eines angemessenen Gedenkens und Umgangs mit den Überresten des Ortes. Klar war, wenn man alles so gelassen hätte, wäre irgendwann von den verbrannten Gegenständen wegen der Korrosion nichts mehr übriggeblieben.

1999 wird das Gedenkzentrum von Oradour eingeweiht. Dort findet man eine Ausstellung über das Massaker und seine Opfer mit Resten verbrannter Objekte wie Brillen, Uhren, Spielzeug etc. Darüber hinaus gibt es eine Dauerausstellung über den politischen und gesellschaftlichen Kontext der Vorkriegszeit, den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Expansionspolitik des »3. Reichs«; die Niederlage Frankreichs, die Politik der Vichy-Regierung, über den französischen und auch deutschen Widerstand sowie über die Geschichte von Oradour nach der Befreiung.

Der alte Ruinenort steht immer noch, nicht mehr ganz so viele ausgebrannte Gegenstände finden sich dort, aber immer noch verbrannte Autos, Bettgestelle und Nähmaschinen. An den Häuserruinen befinden sich jetzt Tafeln, die auf die Bewohner bzw. auf die ehemalige Nutzung der Häuser (Hotels, Handwerksbetriebe, Geschäfte etc.) hinweisen.

Für mich ist Oradour eine der mich am meisten bewegenden Gedenkstätten über die Nazizeit. Hier wird das Grauen erlebbar, erfühlbar, wie nur an wenigen anderen Orten. Wer nach Südwestfrankreich fährt, eine wunderschöne sehr historische Gegend mit vielen Höhlen, Burgen, Schlössern, der sollte unbedingt auch nach Oradour fahren!

Literaturhinweis:

Das aktuellste Buch in Deutschland dürfte »Oradour – Geschichte eines Massakers« von Florence Hervé und Martin Graf sein; erschienen 2014 bei Papyrossa