Massenmord nach Plan
22. Oktober 2019
Der Auftakt am 1. September 1939
Hitler hatte bereits in »Mein Kampf« zur Sicherung der »rassischen« wie ökonomischen Lebensgrundlagen des deutschen Volkes zwei Kriege angekündigt – den zur Gewinnung von »Grund und Boden« notwendigen Krieg gegen »Rußland und die ihm untertanen Randstaaten« sowie den Krieg gegen »das Judentum«, das mit Hilfe des »russischen Bolschewismus« versuche, »sich die Weltherrschaft anzueignen«. Als die Macht der Partei und deren Führung endgültig gefestigt und die Wehrmacht aufgerüstet war, begann Nazideutschland am 1. September 1939 mit dem Überfall auf den »Randstaat« Polen und einer gnadenlosen Besatzungspolitik diese Pläne zu realisieren. Die Bilanz: sechs Millionen ermordeter Polen, die Hälfte davon Juden.
Der am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung erfolgte Einmarsch in die Sowjetunion war das -Signal für die Befreiung von allen moralischen und völkerrechtlichen Bindungen. Den in der Reichskanzlei versammelten Befehlshabern des künftigen Feldzuges offenbarte Hitler im März 1941 in brutaler Offenheit, was er von ihnen erwartete: Der Krieg gegen die Sowjetunion sei ein »Kampf zweier Weltanschauungen« und ein »Vernichtungskampf«, der sich »sehr unterscheiden« werde vom Kampf im Westen. Daher müssten die Befehlshaber im Osten »von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.« Entsprechend lautete die Generalermächtigung der Wehrmachtsführung für die am Überfall beteiligten mehr als 3 Millionen Soldaten, dass ab jetzt »Rechtsempfinden […] hinter Kriegsnotwendigkeit zu treten habe« Dieser Zielsetzung entsprachen auch die sechs Grundsatzbefehle der Wehrmachtsführung: Erschießung aller gefangenen Kommissare der Roten Armee, Abschaffung der Kriegsgerichte für Delikte der Zivilbevölkerung und stattdessen bei jedem Verdacht sofortige kollektive Strafaktionen durch die Truppe, Behandlung der Kriegsgefangenen als zu »Sabotage, Brandstiftung, Mord« geschulte Gegner und nicht als gefangene »Kameraden«, kalkulierter Hungertod »von zig Millionen« Zivilisten, weil nur die Truppe Zugriff auf alle Lebensmittel hatte und schließlich die Aufforderung zur engen Zusammenarbeit mit der für den Judenmord aufgestellten vier SS-Einsatzgruppen, die der Wehrmacht beim Vormarsch folgten und ihr logistisch unterstellt waren. Das Ergebnis dieser Befehle war ein Völkermord, dem fast 30 Millionen Menschen zum Opfer fielen – 11,4 davon waren Rotarmisten, von denen 3,3 als Kriegsgefangene ihr Leben verloren, und 17 Millionen Zivilisten, von denen 2,8 Millionen Juden waren. Die Verantwortung dafür trugen die 10 Millionen an der »Ostfront« eingesetzten Soldaten der Wehrmacht und die mindestens 50 000 Mann, die in SS-Einsatzgruppen und Polizeibataillonen für den Judenmord zuständig waren.
Exakte Zahlen über die beiden deutschen Völkermorde an der Front lagen bei Ende des Krieges noch nicht vor. Aber die gegen die »Hauptkriegsverbrecher« wie gegen das Führungspersonal zentraler Institutionen des »Dritten Reiches« ab 1945 in Nürnberg durchgeführten 13 Prozesse lieferten eine klare Vorstellung vom Ausmaß der Verbrechen. Das galt vor allem für die drei Prozesse, in denen 30 Generäle und Admiräle der Wehrmacht angeklagt waren: Die Generäle Jodl und Keitel wurden hingerichtet, zwei andere begingen Selbstmord, 21 wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. »Das war kein Krieg, das war ein Verbrechen. Das war nicht Soldatentum, das war Barbarei«, so hatte der amerikanische Hauptankläger Telford Taylor sein Plädoyer beendet. Dass sich statt dieses zutreffenden Urteils die Legende von der »sauberen Wehrmacht« durchsetzen konnte, war das Ergebnis des »Kalten Krieges«. Die 1949 gegründete BRD sollte nach dem Willen der Westalliierten und des Bundeskanzlers Konrad Adenauer an dieser Front mit ihren Streitkräften eine bedeutende Rolle spielen. Aber die mit der Neuaufstellung betrauten ehemaligen Generäle verlangten dafür die öffentliche Rehabilitation von Hitlers verbrecherischer Wehrmacht: Im Januar 1951 erklärte daher der ehemalige Oberkommandierende der anglo-amerikanischen Truppen an der europäischen Front und jetzige NATO-Befehlshaber in Europa, General Dwight D. Eisenhower, in Frankfurt vor der Presse, dass »der deutsche Soldat als solcher seine Ehre [nicht] verloren« habe und dass »ein wirklicher Unterschied zwischen deutschen Soldaten und Offizieren als solchen und Hitler und seiner kriminellen Gruppe« bestanden habe. Adenauer gab eine ähnliche Ehrenerklärung im Bundestag ab und verfügte im selben Jahr die Freilassung der inhaftierten etwa 1 000 Kriegsverbrecher, darunter 300 ehemalige Generäle. »Durch das Verhalten der westdeutschen Politiker […] und das Nachgeben der Alliierten in der ‚Kriegsverbrecherfrage‘«, so hat der ehemalige Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg, Alfred Streim, diesen Vorgang interpretiert, sei »die Wehrmacht […] ‚sauber‘[geworden].«